Lycidas (Christoph Marzi)

Heyne (Dezember 2004)
861 Seiten
ISBN-10: 3-453-53006-3

Genre: Fantasy


(Anmerkung: Diese Rezension bezieht sich auf die 2004 erschienene Ausgabe – inzwischen ist der Roman in einer Sonderedition für 10,00 EUR erhältlich!)


Inhalt

„Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren …“

Es geschehen seltsame Dinge in London. Im Waisenhaus des grausamen Dombey traut die kleine Emily Laing ihren Augen nicht, als sie eines Morgens in der Küche von einer Ratte angesprochen wird, die sich ihr höflich als Lord Hironymus Brewster vorstellt. Eine Sinnestäuschung? Nein, denn bald darauf bleibt Emily nichts anderes übrig, als an die Existenz wundersamer Wesen zu glauben – als sie nämlich Zeugin wird, wie ein Werwolf eines der Mädchen aus dem Schlafsaal für Neuzugänge stiehlt. In Begleitung der Ratte – sowie eines Elfen namens Maurice Mickelwhite und des mürrischen Alchemisten Wittgestein – macht sich Emily auf die Suche nach der verschwundenen Mara. Die Spur führt die Gefährten in die Uralte Metropole, eine geheimnisvolle Stadt unter der Stadt, ein dunkles, gefährliches Reich, in dem gefallene Engel hausen und antike Gottheiten über das Schicksal der Menschen walten. Doch was steckt wirklich hinter den Kindesentführungen, von denen London regelmäßig heimgesucht wird? Und wer ist der mysteriöse Herrscher der Uralten Metropole, der sich Lycidas nennt?

(aus dem Buch entnommen)


Rezension

2004 erschienen, schlug „Lycidas“ ein wie eine Bombe und wurde mit dem deutschen Phantastik-Preis in der Kategorie Roman-Debüt ausgezeichnet. Zu Recht. Mit einer geballten Ladung wahrlich fantastischer Einfälle und wundersamen Wendungen hängt das Buch seine Konkurrenten ab. Anlehnungen an Klassiker von Charles Dickens, Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe sind allgegenwärtig und auch Fans von Neil Gaimans „Neverwhere“ werden Ähnlichkeiten erkennen. Diese zu unrecht als Plagiate beschimpften Inhalte sind allerdings gezielt gewählt und als Hommage an die Kreativität der Autoren zu verstehen.

Sprachlich hingegen sollte man, besonders als Gelegenheitsleser, eine Portion Geduld mitbringen, denn Christoph Marzi schreibt, verglichen mit anderen Autoren, bedächtig, malerisch und ausschmückend, zu Beginn etwas ungewohnt. Und sicherlich trifft es nicht jedermanns Geschmack. Hat man sich aber erst einmal darauf eingelassen, kann man tief in die traurige Geschichte von Emily Laing eintauchen und die Erzählung horchen, als sei man noch ein Kind, dem vor dem Zu-Bett-Gehen ein Märchen erzählt wird.
Hier allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei „Lycidas“ nicht um ein Kinderbuch handelt! Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass das Buch nicht so harmlos ist, wie es im ersten Moment scheinen mag. Emily erfährt viele seelische Grausamkeiten und spannende, für Kinder zweifelsfrei gruselige Szenen würden keinen erholsamen Schlaf bescheren. Für Jugendliche und nicht zuletzt erwachsene Leser ist „Lycidas“ aber ohne Umschweife zu empfehlen.

Wie die Inhaltsbeschreibung des Buches schon erwähnt, trifft man auf sprechende Ratten und gefallene Engel. Als würde das nicht reichen, zückt Marzi regelmäßig ein weiteres Ass aus seinem Ärmel und präsentiert ein allseits bekanntes Wesen in einer völlig neuen Rolle. Dabei wird es aus einem einzigartig neuen Blickwinkel betrachtet, sodass der Leser lediglich mit den Kopf schütteln kann, in Anbetracht der beeindruckenden Kreativität des Autors. Und so wird man durch moderne und lang vergessene Mythen geführt, die in London zu einer Einheit verschmelzen.

Trotz der Kreativität bleibt noch immer das zum Teil recht zähe Erzähltempo, das wiederum stark an der Spannungskurve zerrt. Oft kann man problemlos das Buch weglegen und tagelang nicht weiter lesen und beim Gedanken, das Buch nie fertig zu bekommen, erwischt man sich leider auch.
Außerdem haben einige Figuren, und hier sei besonders Wittgenstein hervorzuheben, gewisse Angewohnheiten, die die Nerven besonders in den zäheren Passagen zum Reißen bringen können. Letztendlich lohnt es sich aber doch, denn von einigen Längen abgesehen, bietet „Lycidas“ eine einzigartig düstere Reise eines kleinen Mädchens, das man schnell ins Herz schließt.


Fazit

Christoph Marzi hat eine Menge Herzblut in diese Geschichte gesteckt. Aus vielen Mythen, Märchen und Klassikern strickt er eine völlig neue Geschichte, die geradezu vor Ideen strotzt und jeden Leser, der sich von einem ruhigen und ausschmückenden Schreibstil nicht abschrecken lässt, in seinen Bann zieht.
„Lycidas“ sieht von einem hundert Mal da gewesenen Einheitsbrei, in der ein Held einen magischen Gegenstand zur Rettung der Welt sucht (und findet), ab und zeigt etwas erfrischend Neues.


Pro & Kontra

+ ein Potpourri an Ideen
+ hebt sich weit vom Einheitsbrei ab

o individueller Schreibstil
o Anlehnung an viele Klassiker und Mythen

- gelegentlich zäh
- Nerven strapazierende Charakterangewohnheiten

Bewertung:

Handlung 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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