Tanz unter Sternen (Titus Müller)



Blessing-Verlag
Gebunden, mit Schutzumschlag
398 Seiten; 19,95 EUR
ISBN: 978-3-89667-456-2 

Genre: Belletristik

Klappentext (Rückseite)

Eine ehrgeizige, aber bisher erfolglose Barfußtänzerin aus Berlin, ein hypochondrischer Pastor und seine ewig ungnädige, attraktive Ehefrau, dazu ein britischer Spion, der ihr den Hof macht: Diese vier Menschen befinden sich im April 1912 an Bord des Luxuschiffes Titanic und verstricken sich in eine dramatische Intrige. Für die Überlebenden unter ihnen ist sie mit dem Untergang des Schiffes keineswegs beendet, sondern nimmt im Berlin der zwanziger Jahre eine neue Wendung.

Titus Müller erzählt in „Tanz unter Sternen“ nicht nur die Geschichte der Titanic unter neuen Vorzeichen, er weckt auch die militärisch aufgeladene Stimmung und den Lebenshunger der Menschen in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu neuem Leben.


Rezension

Es ist einer der großen Mythen der Moderne: der Untergang der unsinkbaren Titanic. Gelbe Lichter flackern und verlöschen im nachtschwarzen Eismeer, Salzwasser reißt kostbares Porzellan von fein gedeckten Tischen … Keiner, der nicht Dutzende Bilder vor Augen hätte, sobald nur der Name Titanic genannt wird, auch heute noch, obwohl es fast keine Zeitzeugen mehr gibt. Vor allem Filme lassen den Mythos immer wieder auferstehen und fügen dabei neue Elemente hinzu, die in den Köpfen mit ihr verschmelzen, jener grausam kalten Aprilnacht, die zu einer Parabel geworden ist auf den Hochmut der modernen Zeit. Kann ein Roman da mithalten?

Er kann, wenn er klug der Verlockung widersteht, die berauschenden Filmbilder mit eigenen Beschreibungen übertreffen zu wollen. Wenn er sich auf Dinge konzentriert, die in den Filmen meistens zu kurz kommen; wenn er Menschen nahe rückt, die sich nicht so sehr für das strahlende Licht der Scheinwerfer eignen. Wenn er einen eigenen Blick entwickelt.

Und genau das hat Titus Müller getan.

Die Menschen, die er auf die Titanic schickt, sind weder unendlich reich noch rettungslos verarmt. Sie sind vor allem eins, wirklich menschlich, mit skurrilen Angewohnheiten, jeder Menge Fehlern, unrealistischen Träumen und ewig schlecht gelaunten Müttern. Sie lieben und sie streiten sich, betrügen einander und wünschen sich verzweifelt, es ungeschehen zu machen – der Pastor und seine Frau, ihr kleiner Sohn, die Barfußtänzerin und, als Dreingabe, der Spion, der den kalten Hauch der Geschichte aus seinem schönen Mund atmet. Der Leser lernt diese Menschen und ihr Leben nicht erst auf der Titanic kennen; die Zeit auf dem Schiff, selbst der dramatische Untergang, stellen nur Episoden dar, die sich in Größeres einfügen. Sie sind uns schon längst vertraut, als sie an Bord gehen: die lebenslustige, mutige Nele, die nichts anderes will als tanzen (und zwar angezogen!); Matheus, der Pastor, der für alle mehr Zeit hat als für seine eigene Familie und außerdem in jedem Kratzer eine tödliche Krankheit wittert; die schöne, unzufriedene Cäcilie, die sich fragt, wann ihr eigentlich ihr Ehemann und ihr eigenes Leben innerlich abhanden gekommen sind, und die sich auf eine verhängnisvolle Affäre mit dem englischen Spion Lyman einlässt; und Samuel, der kleine Junge, verwirrt von den beständig streitenden Eltern, unbeliebt bei den Schulkameraden, mit seinem ganz eigenen Blick auf die Welt. Wir kennen sie, als das Riesenschiff ablegt und beginnt, in seinen Untergang zu fahren, wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal und fangen spätestens in diesem Moment an, um jedes einzelne Leben zu bangen. Und der Autor – so viel kann hier schon verraten werden – spannt uns wirklich herzlos lange auf die Folter …

Ein wunderbares Buch, spannend erzählt, souverän geschrieben, ohne überflüssige Spezialeffekte und voller Zuneigung für diese armen geplagten Geschöpfe, die immer nach dem Guten streben und sich dabei ständig selbst diverse Beine stellen. Die Sprache ist angenehm klar, aber niemals kalt, mit gelegentlichen munteren kleinen Metaphern und immer wieder auch von nachdenklicher Zartheit. Das Buch zu lesen, ist ein einziges großes, beinahe ungetrübtes Vergnügen, eine herrlich intensive, menschlich kluge Reise durch Zeit und Raum.

Beinahe ungetrübt – das Buch hat nur wenige Mängel, die größtenteils nicht ins Gewicht fallen. Einige Mythen über die Titanic, einige der Bilder und Geschichten, die vor allem durch die Filme verbreitet werden, hätten vielleicht nun nicht unbedingt übernommen werden müssen, allein schon um der Abwechslung willen, aber: sei’s drum. Was die historischen Begleitumstände angeht, gelingt es Müller meistens, sie passend in das Geschehen einzuweben. Manches erscheint ein wenig naiv; manches wirkt forciert, vor allem im letzten Teil, der eine Art Gewaltritt durch die Historie darstellt und eigentlich in dieser Form unnötig ist. Angesichts der ansonsten wirklich packenden und wunderbar klar geschriebenen Geschichte kann man hierüber aber lächelnd hinwegsehen.

Das einzige, was wirklich stört, ist der bisweilen ausufernde Drang, das Seelenleben aller Figuren bis ins kleinste Detail offenlegen zu müssen – meistens durch Offenbarung der Gedanken der betreffenden Person. Bei allem Verständnis für den Wunsch, auch die innere Welt möglichst gut nachvollziehbar zu schildern: Es ist für den durchschnittlich intelligenten Leser wirklich nicht erforderlich, dass ein Unhold, kurz bevor er zum ersten Mal in seinem Leben etwas Gutes tut, ausdrücklich denkt: Ich tue jetzt etwas Gutes, und dann kann ich mich endlich wieder selbst achten. Jeder, der einige Jahre auf diesem schönen und so schrecklich komplizierten Planeten verbracht hat, kann sich so etwas mit Leichtigkeit selbst zusammenreimen. Ein wenig mehr Zutrauen zum Leser wäre hier angebracht gewesen. Sonst wird der schöne Lesefluss eben doch gelegentlich durch ein ärgerliches „Hält der mich für dämlich?“ unterbrochen.

Was er, der Autor, natürlich nicht tut. Sonst hätte er sich sicher nicht die Mühe gemacht, uns ein insgesamt so schönes, vielschichtiges und schillerndes Buch zu schreiben.


Fazit

Ein spannendes, anrührendes, dramatisches Schauspiel, dieser „Tanz unter Sternen“, den Titus Müller die Figuren in seinem Titanic-Roman aufführen lässt. Man kann nicht anders, als ihnen gebannt Stunde um Stunde zuzusehen, wie sie über die Seiten wirbeln – lebendig, vielschichtig, hin-und hergerissen zwischen tausend Wünschen, beinahe atemlos von dem Versuch, mit dem Tempo der Weltgeschichte mitzuhalten. Benahe atemlos taucht man am Ende auch selbst wieder auf, sieht sich mit ganz fremden Augen um und muss sich erst wieder einfinden in das Heute, das Jetzt. Eine zarte und wilde, herrliche Reise – kauft Eintrittskarten, bevor das Schiff ohne euch ablegt!


Pro und Kontra

+ souverän, klar und eindringlich erzählt
+ lebendige Charaktere
+ fesselnde Geschichte
+ schöne Ausstattung

- manchmal zu sehr erklärend
- historisch teilweise etwas naiv

Wertung:

Handlung: 4,5/5
Historischer Hintergrund: 4/5
Charaktere: 5/5
Sprache: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5