cbj (Februar 2010)
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
432 Seiten, 16,95 Euro
ISBN: 978-3-570-13874-8
Genre: Belletristik / Jugendbuch ab 12 Jahren
Klappentext
Sommer 1936. Die 15-jährige Reni wird dazu auserwählt, Reichskanzler Hitler bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele pressewirksam einen Blumenstrauß zu überreichen. Reni ist überwältigt – verehrt sie Hitler doch glühend. Der Führer scheint ihr der Inbegriff alles Guten und Gerechten, und nun soll sie – das Waisenkind – ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Doch Reni ist gar kein Waisenkind, sondern die Tochter eines Grafen. Ihr Vater gehört zu den einflussreichsten Kreisen des aufstrebenden Nazi-Regimes und ist fest entschlossen, seine hübsche blonde und blauäugige Tochter künftig vorteilhaft einzusetzen. Reni kann ihr Glück kaum fassen – bis ihr Vater ihr rigoros den Umgang mit den sogenannten "Subjekten" verbietet. Damit meint er zum Beispiel Jockel, den Jungen, in den sich Reni bis über beide Ohren verliebt hat. Verzweifelt versucht Reni zu leugnen, dass in ihrer Welt plötzlich nichts mehr so hoffnungsvoll ist, wie es schien.
Rezension
Jürgen Seidel absolvierte eine Ausbildung zum Fernsehmechaniker, lebte für drei Jahre in Australien sowie Südostasien und entdeckte dort seine Leidenschaft zum geschriebenen Wort. Nach seiner Rückkehr beschloss er sein Abitur nachzuholen und Germanistik wie Anglistik zu studieren. Seither arbeitet er unter anderem als freierschaffender Autor, gewann namhafte Preise und präsentierte im Jahr 2010 mit „Blumen für den Führer“ einen Roman, über den Lebensweg eines wunderhübschen Mädchens zur Zeit der Hitler-Verehrung.
>> „Also ist es unsere heilige Aufgabe“, rief er etwas zu laut, „uns der Welt in dieser höchsten kulturellen Qualität buchstäblich aufzuzwingen!“ Er presste einen Moment die Lippen aufeinander. „Jedes Volk, jede Rasse soll das Beste einbringen im Zusammenwachsen der Welt, das ist mir das Wichtigste. Es scheint mir jedoch, und das sage ich ohne falsche Bescheidenheit, als haben die Welt auf uns gewartet, auf den Führer uns seinen erklärten Willen, eine von Gott gewollte Ordnung herzustellen, an deren Spitze unsere Rasse den Ton angibt. Das ist zutiefst vernünftig.“ <<
Es ist eine Zeit des unabwendbaren, nationalsozialistischen Umbruches, im Sommer 1936, in der die diplomatischen Veränderungen auch die letzten, einsamen Zufluchtsstätten weltoffenen Denkens überrollen. Mit davon betroffen: das Mädchenpensionat Ulmengrund, deren unschuldige Waisenkinder und besonders Reni Anstorm sowie Erzieherin Waltraut Knesebeck, die sich stets mühte, ihre Schützlinge aufgeschlossen zu erziehen. Mit dieser bisher tolerierten Methode, stößt sie jedoch von einem Moment auf den anderen auf totalen Widerstand – sogar Manipulation der Kinder, insbesondere der fünfzehnjährigen Reni, wird ihr angelastet. Waltraut Knesebeck verliert nicht nur ihre Anstellung, sondern auch jeden gesellschaftlichen Schutz in einer Zeit, in der ein simples Gerücht oder eine falsche Aussage einem wortwörtlich das Genick brechen kann. Mit Renate Anstorm hat es das Schicksal hingegen besonders gut gemeint. Wunderhübsch anzusehen, natürlich auch tadellos im Benehmen, wird sie auserwählt ihrem großen Vorbild Reichskanzler Hitler von Angesicht zu Angesicht einen Blumenstrauß im Rahmen der Olympischen Spiele zu überreichen. Kurz nach dieser Offenbarung meldet sich der Vater der angeblichen Waisen. Er verschafft der Fünfzehnjährigen eine hohe soziale Stellung, sündteuren Tee und jede Menge Herausforderungen, die Reni nun bewältigen muss. Jürgen Seidel zeichnet hierbei geradezu perfekt den Wandel vom unbedeutenden Kind zur Comtesse. Langsam werden die Unterschiede in den Denkweisen klar und die Portraits der damaligen Zeit mit passenden Farben geschmückt. Erfolgreich: nicht nur Waltraut Knesebeck, Bauerssohn Jockel, Hausmeister Kiank sowie Graf Haardt wirken authentisch, sondern auch die Umgebungen werden passend in Szene gesetzt. Jürgen Seidels Sprachstil ist gut leserlich, seine Untertöne sind provokant. Besonders hervorstechend erweisen sich die Bemühungen, „deutschen Schattenseiten“ jener Zeit außen vor zu lassen. „Blumen für den Führer“ wird zumeist durch die Augen unbescholtener (auch gutgläubiger) Bürger erzählt, die den Reichskanzler verehren, seine Haare sammeln, Fotografien oder simple Erzählungen. Faszination Hitler – in diesem Roman steht sie oft und gerne im Mittelpunkt. Besonders für die Mädchen des Heims ist er ein Held, wird von Reni gar mit Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer verglichen. Sie dichtet beiden Briefe an, beweist blühende, ganz herzliche Phantasie, aber auch eine Schwäche für „niedere Subjekte“ wie den angeblichen Mörder Jockel. Ein Junge aus ärmlicher Familie mit eigenen Träumen und dem Pech, sie scheinbar niemals erfüllt zu sehen.
Wie genau man zu Jürgen Seidels Beschreibungen dieser Zeit auch immer stehen mag: seine Methode, das Deutschland dieser Zeit nicht durch das Grauen der Judenverfolgung oder ähnlichen Grausamkeiten zu betrachten, wirkt vor allem zu Beginn ungemein anziehend. Flüssig lesend, kommt man in der Geschichte schnell voran, die besonders durch Details ebenso besticht, wie durch eine feinsinnige Moral zwischen (!) den Zeilen. Kleinigkeiten, die sicherlich für jüngere Leser nicht ganz so schnell auszumachen sind, sich aber rückblickend betrachtend gut mit Begleitung von Erwachsenen analysieren lassen. Das lässt „Blumen für den Führer“, trotz mancher Unleidlichkeiten (ungenutztes Potenzial oder Renis wachsende Oberflächlichkeit) letztendlich sehr reflektieren. Leider weniger gut gelungen ist der Spannungsbogen im letzten Drittel sowie manch inhaltliche (für die Jugend wohl dennoch hilfreiche) Wiederholungen.
Er ging an ihr vorbei in den Hausflur zur Treppe. „Na, Ihnen kann man ja vertrauen, Fräulein Knesebeck. Und wem traut man heute noch, wa?“ Sie folgte ihm. Plötzlich drehte er sich um und flüsterte: „Der Führer jeht zu Hanussen, dem Wahrsager. Sacht Hanussen: Führer, Se werden annem jüdischen Feiertach sterben. Fracht der Führer: An welchem denn? Antwortet Hanussen: Jeder Tach, an dem Sie sterben, wird’s een jüdischer Feiertach sein, wa?“ Waltraut musste lachen. Kiank blieb ernst. Ihr Gesicht versteinerte.
(Seite 71)
Fazit
Jürgen Seidel betrachtet mit „Blumen für den Führer“ den Nationalsozialismus aus einer sehr jugendlichen sowie manchmal auch leichtgläubigen Sicht. Interessant geschrieben und voller unterschiedlicher, nicht immer offensichtlicher Nuancen, überzeugt dieser Roman durch Eigenwilligkeit gänzlich ohne Hast. Wer über die schwärmende „Faszination“, die man Hitler entgegengebracht hat (oder öffentlich entgegenbringen musste), lesen will, sollte zugreifen. Kinder bestenfalls im Unterreicht, denn hier gäbe es Unzähliges zu analysieren.
Pro und Kontra
+ authentische, vielschichte Darstellung der Charaktere
+ Hitler(-Verehrung) aus einer gänzlich anderen Sicht
+ viele Grautöne zwischen den Zeilen
+ sich Zeit nehmend und sehr detailreich
+ ausführliche Begriffserklärungen am Ende
o im Alleingang eher nur Erwachsenen zu empfehlen
o simpler, jugendfreundlicher Sprachstil
- verschenktes Potenzial im Hinblick auf Jockels Entwicklung
- Hitlers Motivation durch die Augen der Beteiligten zu undurchsichtig
- emotional nicht immer nachvollziehbar
Wertung:
Handlung: 3 / 5
Charaktere: 4,5 / 5
Lesespaß: 4 / 5
Preis/Leistung: 4 / 5