Interview mit Jürgen Seidel
Literatopia: Hallo Jürgen, danke, dass Du Dir die Zeit nimmst, uns ein paar Fragen zu beantworten. Erzähl uns doch zu Beginn ein bisschen mehr über Dich: Wer bist Du und welche Art von Büchern schreibst Du?
Jürgen Seidel: Als Romanautor gehöre ich zu denjenigen, die das Erfinden und Schreiben mehr schätzen als das Buch, wenn es fertig und gedruckt vor mir liegt. Natürlich bin ich auch stolz und oft auch ganz zufrieden damit. Aber die fließende kreative Arbeit bedeutet mir mehr. Die meisten meiner Romane verlangen beim Lesen ein bisschen Aufwand und wollen nicht bloß unterhalten.
Ich nehme jugendliche Leser nicht weniger ernst als erwachsene, das macht meine Bücher manchmal unbequem oder anstrengend. Mir ist es lieber, wenigen eine gute Lektüre zu bieten, als allen eine allzu leichte und flotte.
Literatopia: Im Februar 2010 erschien „Blumen für den Führer“ im cbj Verlag. Im Mittelpunkt der Handlung: Renate Anstorm, auserwählt, dem Reichsführer Adolf Hitler einen Blumenstrauß zu überreichen. Magst Du uns mit eigenen Worten vielleicht ein bisschen mehr darüber erzählen?
Jürgen Seidel: Reni wird gerade erwachsen, als es mit dem Nationalsozialismus losgeht. Die Handlung umfasst ein paar Wochen vor und während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Reni kennt die schreckliche Zukunft mit Krieg und Holocaust nicht, vertraut den Erwachsenen und hält Hitler für einen genauso wohlwollenden Mann wie Albert Schweitzer, den sie sehr bewundert. Die unüberbrückbare Kluft zwischen Hitler und Schweitzer, die uns heute als etwas Selbstverständliches erscheint, sieht sie noch nicht. Solche Vermischung von Gut und Böse muss es damals in sehr vielen Köpfen gegeben haben, sonst wäre der Aufstieg der Nazis nicht möglich gewesen. Ich glaube, es ist für heutige Jugendliche, die wissen, wer Hitler war, überaus lehrreich, die Irrtümer und Verwirrung eines damals gleichaltrigen Mädchens aus der Nähe mitzuerleben.
Literatopia: Jugendliche mit Herz für Hitler, eine Erzieherin, an der die Veränderungen in Deutschland nicht spurlos vorübergehen, und ein fast erwachsener Junge, der für die Öffentlichkeit zum Mörder wird – welcher dieser Charaktere war Dir der Liebste? Warum?
Jürgen Seidel: Ich mag Reni am meisten, weil sie literarisch gesehen eine tickende Zeitbombe ist. Für wen wird sie sich später entscheiden – für Hitler oder Schweitzer? Beide kann sie auf Dauer nicht in ihrer Seele belassen. Wer aufmerksam liest, findet die Antwort, obwohl die Zukunft im Roman nicht vorkommt. Trotz der Verführungen und märchenhaften Verbesserung ihres Lebens bleibt sie sensibel genug, um zu zweifeln und zu spüren, dass die Nazis nicht das sind, was sie scheinen. Hitler ängstigt sie.
Literatopia: War es Dir sehr wichtig, ein solches heikles Thema aufzugreifen? Hattest Du keine Bedenken, was die Ausrichtung Deines Romans betrifft, bzw. Angst vor harter Kritik? Wie umfassend war Deine Recherche und was wolltest Du mit diesem Roman erreichen?
Jürgen Seidel: Mir war klar, dass ich kritisiert werden würde, weil Reni keine Entwicklung bis zur Erkenntnis des Bösen durchläuft, wie man sie von einem Jugendbuch kennt und erwartet. Das Erkennen der Gefahr des Nationalsozialismus erschien mir für eine 15-Jährige 1936 nicht glaubhaft. Ich glaube übrigens nicht, dass heutige jugendliche Leser, die solch ein Buch lesen, nicht über den Nationalsozialismus Bescheid wissen. Natürlich haben wir ein Glossar mit wichtigen Namen und Begriffen angehängt. Aber dass die Lektüre des Buchs einen Jugendlichen schädigen oder gar den Neonazis näherbringen könnte, ist ausgeschlossen.
Reni ist in erster Linie Albert-Schweitzer-Fan, sie hat hohe moralische Ansprüche und ist deshalb eine ausgezeichnete Romanheldin für einen Jugendroman. Die Zeit und die Erwachsenen machen ihr das Leben schwer. Das kennen Jugendliche auch heute und verstehen Renis Konflikte insofern gut.
Literatopia: Wie emotional dürfen Jugendbücher eigentlich sein? Gibt es für Dich Grenzen, die Du einhalten möchtest, um besonders junge Leser nicht zu überfordern? Oder gar persönliche Regeln, die Du befolgst, um verschiedenen Altersgruppen gerecht zu werden?
Jürgen Seidel: Ich weiß nicht, warum der Verlag das Buch für 12-Jährige empfiehlt. Das finde ich falsch. Allerdings kenne ich kein gutes politisches Jugendbuch, das in seinen emotionalen Anforderungen an die Leser an das heranreicht, was das Internet und manche Computerspiele ihnen heute abverlangen. Wenn dort soviel Sorgfalt und Vorsicht herrschen würden wie in „Blumen für den Führer“, wären wir einen großen Schritt weiter. Obwohl Fantasy-Romane viel populärer sind als meine Geschichten, bin ich überzeugt, dass sich viele Leserinnen und Leser auch für die Wirklichkeit und unsere Vergangenheit interessieren.
Literatopia: Im April 2012 wird „Die Unschuldigen“, ebenfalls im cbj Verlag, erscheinen. Partisanengruppen, SS-Mordkommandos und eine scheinbar gefährliche Liebe – was darf der geneigte Leser von diesem Roman erwarten?
Jürgen Seidel: Etwas Vergleichbares wie in den „Blumen“. Der neue Roman greift auf eine wahre Geschichte zurück, die Ermordung des Aachener Oberbürgermeisters 1945. Auch hier erleben die Leser die Nöte einer jungen Frau aus der Nähe mit, die an der Aktion Anteil hat, es am Ende aber sehr bereut, dabei gewesen zu sein. Reni wurde um 1920 geboren, Heidrun in „Die Unschuldigen“ hat das Geburtsjahr 1928. Beide sind während der NS-Katastrophe groß geworden und plagen sich mit Zweifeln, ob ihr Handeln richtig ist. 2013 wird der 3. Band dieser Trilogie erscheinen: ‚Held’ ist dort der Sohn eines Nazis, der 1945 nach Kriegsende aus Deutschland nach Südamerika flüchtet, um nicht belangt zu werden. Der Junge ist 17 Jahre alt, die Geschichte spielt 1952, er wurde also 1935 geboren. Er kämpft mit den Problemen, die er mit der Schuld seines Vaters „geerbt“ hat. Im Unterschied zu Reni trägt er bereits die ganze Bürde, die die NS-Verbrecher für immer auf die deutsche Geschichte geworfen haben. Alle drei Romane stellen also Jugendliche in den Mittelpunkt, die der Täterseite zuzurechnen sind. Ich glaube, wir werden den Nationalsozialismus nur verstehen, wenn wir neben der Opfersicht auch diese Perspektive einnehmen.
Literatopia: Drei Jahre in Australien und Südostasien – was hast Du aus dieser Zeit für Dich mitgenommen? Gab es bestimmte Eindrücke, die Dich nicht mehr losgelassen, gar zum Schreiben gebracht haben? Warum ausgerechnet danach Abitur und Studium? Nur ein Zufall?
Jürgen Seidel: Ich bin mit 14 Jahren in die Lehre gekommen, 1963. Die Auswanderung 1969 war damals der einzige Weg, um aus der Sackgasse des Handwerksberufs herauszukommen. Australien war in der Zeit noch richtig weit weg von hier und sehr abenteuerlich. Ich habe dort auch mit dem Schreiben angefangen. Mit dieser „Erfahrung“ der Welt bin ich nach Hause gekommen und habe das Abitur nachgemacht und studiert. Ich zehre heute noch von dem, was ich damals erlebt und gelernt habe.
Literatopia: Bis heute hast Du verschiedene Romane, literaturwissenschaftliche Publikationen, Hörspiele und Rundfunkbeiträge veröffentlicht. Woher diese Vielseitigkeit? Wolltest Du verschiedene Richtungen gehen oder bist Du in all das quasi „hineingestolpert“?
Jürgen Seidel: Ja, die meisten Autoren „stolpern“ so durch die Gegend, denke ich, bis sie ihre „Heimat“ gefunden haben. Man probiert aus, schwenkt um, sucht neue Ziele. Schreiben ist genauso spannend und abenteuerlich wie Nach-Australien-Auswandern. Man weiß nie, was als nächstes geschieht und freut sich, wenn die Geschichte eine neue Wendung bekommt oder jemand auftaucht, den man bisher gar nicht kannte …
Literatopia: Kannst Du Dir neben Deiner Arbeit als Schriftsteller noch erlauben, ausgiebig zu lesen? Wenn ja, verrätst Du uns welches (Jugend-)Buch Dich in den letzten Monaten besonders beeindruckt hat und warum? Und welche Genres sind Deine besonderen Favoriten?
Jürgen Seidel: Ich muss viel lesen, vor allem Sachbücher für die Recherche, aber ich will natürlich auch wissen, wie andere Autoren an das Thema herangehen, für das ich mich interessiere. Mir haben „Die Bücherdiebin“ gut gefallen und jüngst „Das Wolkenzimmer“ von Irma Krauß. Natürlich kenne ich auch die Bücher von Mirjam Pressler und Klaus Kordon. Um den eigenen Weg zu finden, muss man andere, fremde gehen. Ich denke, das Thema Nationalsozialismus wird immer wichtig bleiben, muss aber von Zeit zu Zeit auf eine andere und neue Weise dargestellt werden, weil heutige Jugendliche Bücher anders lesen und verstehen als Schüler vor 10 oder 20 Jahren.
Literatopia: Hast oder hattest Du jemals literarische Vorbilder? Wenn ja, welche Autoren oder Lyriker bewunderst Du besonders? Würdest Du sagen, sie haben Dich und Dein Schreiben maßgeblich geprägt?
Jürgen Seidel: Ich mochte immer Lion Feuchtwanger und Alfred Andersch, aber auch Thomas Mann und so’n schweres Zeug.
Literatopia: Wo und wann schreibst Du? Brauchst Du ein gewisses Umfeld, um in Stimmung zu kommen, oder könnte um Dich herum die Welt im Chaos versinken, während Du tief konzentriert die Tasten zum Glühen bringst?
Jürgen Seidel: Ich schleppe die Geschichte ständig mit mir herum – im Kopf, aber auch im Schreibheft, das ich dann irgendwann vollkritzele, egal, wo ich bin. Oft auch unterwegs mit dem Fahrrad … Zu Hause glühen dann auch die Tasten!
Literatopia: Talent oder Handwerk? Wie denkst Du über das Schreiben und was muss man als Autor Deiner Meinung nach besonders beherrschen, um seine Leser fesseln zu können?
Jürgen Seidel: Ganz viel Handwerk und Routine. Talent steckt in der Fantasie, sich andere Menschen innen und außen vorzustellen, deren Welten, Wünsche, Höhen und Tiefen. Talent ist wohl auch die Gabe, dramaturgisch zu denken, also eine Geschichte und ihre Konflikte verstehbar zu erzählen. Aber das hat auch handwerkliche und erlernbare Seiten. Das Wichtigste: Geduld! Sitzfleisch! Nicht aufgeben!
Literatopia: An welchen Projekten arbeitest Du derzeit und was dürfen wir in naher und auch ferner Zukunft von Dir erwarten? Planst Du weitere Romane über das „Dritte Reich“? Oder gar einen Sprung in Dir noch fremde Genres?
Jürgen Seidel: Über die 3 oben genannten Romane hinaus wird es vermutlich etwas zum Ersten Weltkrieg geben. Dass er losbrach und die späteren Verwüstungen des 20. Jahrhunderts vorbereitete, jährt sich 2014 zum 100. Mal. Diese Zeit ist für das Geschichtsverständnis also mindestens so wichtig wie der Holocaust und der Zweite Weltkrieg.
Literatopia: Herzlichen Dank für das schöne Interview, Jürgen!
Rezension zu "Blumen für den Führer"