Literatopia: Hallo Peter! Vergangenen Herbst ist Deine Geschichtensammlung „Wo die verlorenen Worte sind“ erschienen. Würdest Du unseren Lesern beschreiben, um welche Art von Geschichten es sich handelt? Wie würdest Du Deinen Stil einordnen?
Peter Nathschläger: Ich hatte schon lange vor, einen Band mit Kurzgeschichten zusammenzustellen, und wollte dies immer mit einem umfassenden Konzept angehen. Als ich meine Manuskripte nach einem geeigneten inneren Zusammenhang durchsuchte, fand ich heraus, dass ich in vielen Texten Tod & Ende thematisierte: das Ende von Legenden, von Träumen, Hoffnungen und dem Leben an und für sich – so kam es dazu, dass das alles umfassende Konzept der Kurzgeschichtensammlung „Das Ende“ ist. Das Ende unserer Realität, der Welt, das Ende der Unschuld, der Freundschaft.
Mein Stil schwankt innerhalb der einzelnen Texte je nach innerer Notwendigkeit der Geschichte zwischen objektiv und subjektiv. Stilistisch würde ich mich gerne mit Julio Cortazar unter einen Schirm stellen :)
Literatopia: Du selbst bezeichnest Dich als „Erzähler“ – was bedeutet das für Dich? Und was hältst Du von Bezeichnungen wie Schriftsteller und Literat?
Peter Nathschläger: Ich habe mich als Erzähler bezeichnet, weil mir stets das Erzählen selbst wichtig war, und weil mir die zum Teil sehr emotionell geführten Diskussionen darüber, ob man sich als Schriftsteller, Autor, Schreiberling und was weiß ich noch bezeichnen kann oder soll, stets zuwider waren. Inzwischen tendiere ich dazu, mich als Schriftsteller zu bezeichnen. Mario Vargas Llosa sagt, Schriftsteller bist Du, wenn Du die Berufung annimmst und alles in Deinem Leben dieser Berufung unterordnest. Schriftsteller oder Literat zu sein hat nichts mit finanziellem Erfolg zu tun und nichts mit dem eitlen Begleitgeklimper, das für manche Autoren so wichtig ist. Der größte Lohn für einen Schriftsteller, der zu seiner Berufung gefunden hat, ist das Schreiben, dass er es kann, sich darin verbessert und dass es sein Leben erfüllt und bereichert.
Literatopia: Deine Kurzgeschichten und Novellen sind oftmals tragisch und melancholisch. Haben diese dramatischen Schicksale manchmal auch einen realen Hintergrund? Oder sind alle Deine Geschichte rein fiktiv?
Peter Nathschläger: Die Geschichten sind fiktiv. Ralf König, der bekannte deutsche Grafiker, antwortete einmal auf die Frage, wie viel in seinen Comics real sei: ein Drittel selbst erlebt, ein Drittel gehört, ein Drittel frei erfunden. Nehmen wir die Novelle „Mistah Zumbee“ aus dem Buch: Den Ort gibt es wirklich, ebenso Friedhof, Jubiläumshalle, und vielleicht gab es sogar mal einen Timmi Grier … Die Tragik, in der die meisten Geschichten in diesem Buch enden, ergibt sich aus der inneren Notwendigkeit der Texte selbst. Ich konnte sie nur so erzählen, wie sie vorliegen. Alles andere wäre mir falsch und betrügerisch vorgekommen.
Literatopia: Die meisten Deiner Werke haben einen homoerotischen Hintergrund. Ist es dadurch für Dich schwerer, von der Presse ernsthaft wahrgenommen zu werden?
Peter Nathschläger: Es gibt durchaus einen recht anspruchsvollen Markt für schwule Literatur. Wenn ich jetzt von der Presse nicht oder zu wenig wahrgenommen werde, liegt das vielleicht weniger am literarischen Desinteresse des Feuilleton an der Thematik, als daran, dass ich durch einiges an Ungeschick meinen Namen möglicherweise verbrannt habe, weil ich viele Werke zu früh und in einem zu unreifen Stadium zu Veröffentlichungen einreichte. Dass sie gedruckt wurden stellt hier kein Qualitätsmerkmal dar, sondern weist auf die literarischen Vorlieben der Publizisten hin. Wenn man eine bestimmte Art von Geschichten gerne mag, sieht man möglicherweise auch die literarischen Unzulänglichkeiten eher rosarot … Ich glaube, an der Unaufmerksamkeit der Presse meinen Texten gegenüber bin ich zu gutem Teil selbst schuld.
Literatopia: Waren diese frühen Publikationen dem Drang geschuldet, unbedingt etwas veröffentlichen zu wollen? Hast Du damals entsprechend schlechte Kritiken erhalten? Und denkst Du nicht, dass sich ein eventuell negativer Ruf durch herausragende Literatur wieder ausgleichen lässt?
Peter Nathschläger: Bei mir war es gar nicht einmal das unbedingt veröffentlicht werden wollen als vielmehr eine leicht trunkene und sorglose Art, mit dem Thema Publikation umzugehen. Es fiel mir in den Schoß. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass ich, nachdem ich die Zusage hatte, noch Arbeit in das Werk investieren muss. Diese naive Unbekümmertheit habe ich viel zu spät abgelegt, aber dafür gründlich. Ich halte es für möglich, dass man einen verbrannten Namen rehabilitieren kann, aber er wird für immer nach feuchter Asche riechen …
Literatopia: Manche Deiner Geschichten spielen auf Kuba, wobei man eine besondere Verbindung zu diesem Land spürt. Was reizt Dich persönlich so sehr an Kuba, dass Du diesem Land gleich mehrere Geschichten und Romane widmest?
Peter Nathschläger: Ich habe Kuba im Sommer 2010 zum ersten Mal besucht und war seitdem fünf Mal dort. An Kuba reizt mich, wie sich die Menschen unter dem Schirm des Tropensozialismus entwickelten, mich interessiert die Bodenständigkeit ihres Patriotismus, mich reizt, die Orte zu besuchen, an denen sich Ernest Hemingway aufhielt, als er auf Kuba lebte. Mich fasziniert die unverbrüchliche, sehr erotische Lebensfreude der Kubaner, ihre muskulöse Seele, die Kraft, die sich im täglichen Kampf um ein wenig persönlichen Freiraum entwickelt. Und ehrlich, es gibt kaum einen beeindruckenderen Anblick als das gelbe Leuchten des riesigen Mondes über den Dächern von Havanna. Diese Stadt atmet Literatur ein und Poesie aus.
Literatopia: „Nibis Amida blickt zur Erde“ tritt im Science Fiction-Gewand auf. Was hat Dich zu dieser Novelle inspiriert? Wie würdest Du die Grundidee dieser Geschichte beschreiben?
Peter Nathschläger: Eigentlich ist „Nibis Amida blickt zur Erde“ eine phantastische Geschichte, in der ich mit dem Gedanken spielen wollte, wie dünn unsere Realität ist, und wie gefährlich es für unser Seelenheil sein kann, wenn die hauchdünne Schicht, die uns vor der „wahren“ Realität trennt, eines Tages reißt. Die Rahmenhandlung (also der Teil mit der Raumfahrt und dem Cluster) ist von Arthur C. Clarkes RAMA inspiriert, und die Idee, das es eine Schleife gibt, die unterschiedliche Erzählebenen mit der „Wirklichkeit“ verbindet, kam mir bei der Lektüre von Julio Cortazars Erzählungen in dem Band: „Die Nacht auf dem Rücken“.
Literatopia: Auch „Der Pan“ hat einen phantastischen Einschlag. Was symbolisiert der psychisch doch recht angeschlagene Pan in Deiner Geschichte? Und was bedeutet Dir die Originalgeschichte um Peter Pan?
Peter Nathschläger: Wenn man die Geschichte langsam liest, könnte man sie auch als realistische Geschichte annehmen, in der es um einen psychisch labilen Zivildiener mit pädophilen Neigungen geht, der sich eine Begegnung mit dem Pan zusammenphantasiert. Ich habe beim Verfassen der Geschichte vor allem den sogenannten Pan-Effekt im Hinterkopf, dem Unwillen, erwachsen zu werden. Ich mag die Originalgeschichte von J. M. Barrie sehr gerne. Ich mag auch die Realverfilmung von P. J. Hogan aus dem Jahr 2003. Es gibt da auch eine dunkle Comic-Serie, in dem die unterschwellig vorhandene Homoerotik sehr deutlich thematisiert wird, z.B. als Peter Pan, bevor er nach Nimmerland verschwand, von seiner trunksüchtigen Mutter losgeschickt wird, eine Flasche Schnaps zu besorgen, und wenn es sein muss, dann soll er seinen Arsch dafür geben …
Mir ging es jedenfalls um den Balanceakt, eine Geschichte zu schreiben, die sowohl als phantastische Geschichte gelesen werden kann, wie auch als realistische.
Literatopia: „Mistah Zumbee“ dürfte die Leserschaft polarisieren – die dargestellte Gewalt erschreckt mit der Verbindung unmenschlicher Grausamkeit und Lustempfinden. Was hat die Protagonisten dieser Geschichte so grausam werden lassen? Und wer oder was ist „Mistah Zumbee“?
Peter Nathschläger: Bei all der Brutalität in der Geschichte wird möglicherweise übersehen, dass es eine zutiefst tragische Geschichte von zwei Jugendlichen ist, die gerade in einer so sensiblen Phase des Heranwachsens von ihren engsten Bezugspersonen vollkommen im Stich gelassen werden; der eine leidet unter seiner kalten Mutter, die ihre ganze Liebe in den älteren Sohn steckte und den Jüngeren, Timmi nur noch Kälte und Ablehnung entgegenbringt, der andere leidet nicht nur unter dem Tod seines Bruders sondern auch daran, dass dieser Tod sich wie eine Wand um die Liebe seiner Eltern legt; er dringt nicht mehr zu ihnen durch. Das Wesen „Mistah Zumbee“ ist eine Allegorie auf das, was uns einerseits zu bösen Menschen macht, andererseits aber auch für unsere eigene Feigheit, uns eingestehen zu können, dass wir Böses in uns haben. Mit der Kombination von Gewalt und erotischen Begierden wollte ich genau diese Balance darstellen: die Lust, gegen Konventionen zu verstoßen, sie zu zerstören, und andererseits für das eigene Verhalten eine Ausrede zu suchen. Die Erotik zwischen den Beiden baut auf Gewalt und Herrschsucht auf, sie ist gleichzeitig kindlich (im Sinne von unreif, unerwachsen) und grausam, aber auch auf abstoßende Art raffiniert, in Bezug auf die gegenseitige Attraktion. Und ich habe schon sehr bewusst auf die abstoßende Natur ihres Verhältnisses hingewiesen (vor allem in der Nebenerwähnung, was mit dem Hund geschah), um deutlich zu machen, dass die noch sehr kindliche Schrecklichkeit der Beiden ein Resultat von Kälte, Gier und Zurückweisung ist.
Literatopia: Verhalten sich Deine Charaktere immer wie von Dir vorgesehen oder wirst Du während dem Schreiben von so mancher Entwicklung überrascht? Kann man Geschichten überhaupt von Anfang an bis zum Ende komplett durchplanen?
Peter Nathschläger: Sie verhalten sich zumeist so, wie ich sie mir denke. Ich glaube, dass man Geschichten durchaus von Anfang bis Ende durchplanen kann, aber dann werden sie sich auch so lesen: geplant. Für viel wesentlicher halte ich es, dass man sich als Schriftsteller zuerst einmal den Kopf darüber zerbricht, was für eine Geschichte man erzählen will, und dann, wie. Welche Erzähler man einsetzen will, welche Zeitebene, welche Wechsel (zwischen realer und phantastischer Ebene). Durchgeplante Geschichten sind funktionell und streben sehr oft kerzengerade von Punkt A nach Punkt B. Und durch die Verblödungsmanöver der amerikanischen Creative Writing Schools sind viele junge Autoren regelrecht verunsichert, und trauen sich nicht mehr zu, auf ihre eigene Stimme zu hören. Sie fürchten sich vor Rückblenden, Zeitenwechsel, Wechsel der Erzählstimmen, haben Angst vor qualitativen Wechseln, weil das alles laut Creative Writing Schools und dieses unsäglichen James N. Frey die Leser nur verwirrt. Man kann – noch einmal – Manuskripte durchplanen, viel wichtiger aber ist es, sie zu erleben, die eigene Stimme zu finden, zu lernen, wie man zwischen innerem, äußerem und unschlüssigem Erzähler wechselt, wie man das literarische Instrumentarium einsetzt und nutzt. Junge Schriftsteller sollten Literatur lesen, um zu lernen. Ich schicke ja auch keinen Halbwüchsigen zu McDonalds, wenn er Koch werden will.
Literatopia: Deine Geschichten sind teilweise phantastisch, teilweise aber auch sehr real. Gibt es für Dich dennoch Genres, die Dir überhaupt nicht liegen?
Peter Nathschläger: Ich interessiere mich nicht für Genres, was für die Publikation meiner eigenen Bücher durchaus problematisch ist, weil ich sehr oft die Genres wechsle. Was mir persönlich nicht liegt, sind historische Romane und Fantasywerke aller Art.
Literatopia: Gedichte Kurzgeschichten, Novellen, Romane – liegen Dir alles etwa gleich gut oder hast Du Präferenzen? Und musst Du Dich manchmal sogar auf eine Kurzgeschichte beschränken, wo Du lieber einen ganzen Roman schreiben würdest?
Peter Nathschläger: Am liebsten schreibe ich Romane. Jede Geschichte, die ich zu erzählen habe, hat auch aus ihrer inneren Notwendigkeit heraus eine bestimmte Länge. So gesehen ist es mir im Prinzip egal, ob ich jetzt einen Roman, eine Novelle, eine Kurzgeschichte schreibe. Jede Geschichte ist so lange, wie sie sein muss, um vollständig erzählt zu werden.
Literatopia: Wovon handeln Deine Gedichte? Und wie schätzt Du die heutige Wertschätzung gegenüber Lyrik ein? Lesen Menschen nach wie vor gerne Gedichte oder wird diese Literaturgattung zunehmend verdrängt?
Peter Nathschläger: Gedichte schreibe ich schon lange nicht mehr, aber als ich sie schrieb, mochte ich den Klang von Allen Ginsberg, Dylan Thomas und William Carlos Williams. Vor allem bei WCW beeindruckte mich die Präzision der Sprache, und wie er in all seiner Verdichtung und Objektivierung seiner Texte dennoch emotionell verbindliche Bilder schaffen konnte.
Ich glaube schon, dass Menschen noch Gedichte lesen – aber mehr noch als in der Literatur drängen in der Poesie talentlose SMS Schreiber in die erste Reihe, die keinen Qualitätsmaßstab gelten lassen und dem Leser von Poesie nachhaltig den Genuss verderben. Jeder Dichter, der heute ein Werk mit Gedichten herausbringen möchte, sollte sich zuerst fragen, wie viele Gedichtbände er selbst von jungen und unbekannten Autoren hat, und wieso dann irgendjemand ausgerechnet sein Buch kaufen soll.
Literatopia: Liest Du ebenso gerne wie Du schreibst? Welche Genres tummeln sich in Deinen Bücherregalen? Und hast Du vielleicht ein Lieblingsbuch, das Du unseren Lesern ans Herz legen möchtest?
Peter Nathschläger: Ich habe es – nach einer langen Phase mit amerikanischen Prosaisten – mit lateinamerikanischen Autoren, den Vertretern der phantastischen Realität: Alejo Carpentier, Mario Vargas Llosa, Reinaldo Arenas, Julio Cortazar, José Lezama Lima … Ich lege jedem Leser Alejo Carpentiers „Das Reich von dieser Welt“ und Cortazars „Die Nacht auf dem Rücken“.
Literatopia: Schreibst Du bevorzugst zu einer bestimmten Tageszeit oder brauchst Du beispielsweise Musik zum Schreiben? Oder kannst Du quasi immer und überall schreiben?
Peter Nathschläger: Ich schreibe gerne vormittags, wenn ich es mir aussuchen kann. Ich habe es gerne ruhig wenn ich schreibe, also keine Musik, kein Krawall. Aber im Grunde genommen kann ich überall schreiben, solange mit keiner was auf die Tastatur schüttet. Große Teile des Romans „Der Mitternachtsdom“ entstanden auf einer Berghütte in der österreichischen Steiermark, Teile von „Im Palast des schönsten Schmetterlings“, der im Herbst bei Himmelstürmer erscheinen wird, entstanden auf einem großen Balkon einer Wohnung im Zentrum Havannas, viele der Gedichte, die in meinem Gedichtband „Großstadttagebücher“ erschienen, schrieb ich in Istrien am Strand …
Literatopia: Was wird uns in naher Zukunft von Dir erwarten? Schreibst Du bereits an einem neuen Roman? Und wird man Dich irgendwo live erleben können?
Peter Nathschläger: Ich überarbeite gerade ein Rohmanuskript eines sehr umfangreichen kubanischen Romans, in dem ich eine sanfte Revolution thematisieren möchte, und bereite den Roman „Im Palast des schönsten Schmetterlings“ vor, ebenfalls ein Kubaroman über die Zerstörung einer Familie durch die Machtmechanismen der kubanischen Revolution von 1959. Dann werde ich versuchen, meinen aus vier Novellen bestehenden Serienkillerroman fertigzustellen. Es geht immer weiter, weil es so wunderbar, so erfüllend ist, zu schreiben, Welten und Schicksale zu entwerfen, sich berühren zu lassen von dem, was man erfindet, weil es so großartig ist, das Leben dem Schreiben unterzuordnen.
Literatopia: Herzlichen Dank für das ausführliche Interview!
Autorenhomepage: http://www.nathschlaeger.com
Rezension zu "Wo die verlorenen Worte sind"