Script 5-Verlag
Taschenbuch
270 Seiten; 12,95 EUR
ISBN: 978-3-8390-0130-1
Genre: Belletristik
Klappentext
Hauptbahnhof Düsseldorf, Dienstagmorgen, 6.10 Uhr. Ein junger Mann
steigt in den Regionalexpress nach Köln. Er zieht einen kleinen
Rollkoffer hinter sich her. In Köln steigt er um und fährt zurück in
Richtung Düsseldorf. Zehn Minuten später verlässt er den Zug in
Köln-Deutz. Der kleine Rollkoffer mit der Bombe bleibt zurück im Abteil …
Rezension
Sie tauchen in der Presse immer wieder einmal auf: Junge Männer, die im
Personalausweis Paul oder Bernhard heißen, sich aber Yussuf oder Murad
nennen. Islamische Konvertiten, Deutsche ohne muslimischen Hintergrund,
die sich zum Islam bekennen, und das immer wieder auch ausgesprochen
öffentlich. Die weniger Öffentlichen sind dann die, von denen man
irgendwann liest, dass sie in terroristischen Ausbildungslagern
verhaftet wurden …
Mit diesen Männern beschäftigt sich Agnes Hammer, das heißt: mit einem
von ihnen, und auch noch mit etlichen anderen Figuren. Anhand von Max,
um den herum sich die Geschichte entfaltet, versucht sie nachzufühlen,
wie aus einem unzufriedenen deutschen Teenager ein gewalttätiger
islamischer Fundamentalist werden – oder nicht werden – kann. Dieser Max
ist tief unglücklich und eigentlich fremd in seinem eigenen Leben.
Seine Eltern schweben in höheren esoterischen Sphären, die er verlogen
findet, seine Schwester ist in Gedanken nur im Reitstall; in der Schule
hat er keine Freunde, er verbringt die Tage Kartoffelchips mampfend vor
dem Computerschirm. Bis zu jenem Tag, an dem er Adil, einen muslimischen
Teenager, im Zug mit den Fäusten gegen eine Bande Nazis verteidigt und
plötzlich etwas in ihm lebendig wird. Etwas, das Sehnsucht entwickelt
und nach Erfüllung verlangt. Erfüllung, die es nur an einem Ort zu geben
scheint: in der Moschee, in den Lehren des Qur’ans, die über Adil in
Max’ Leben treten und ihm einen Ausweg aus der chaotischen
Gleichgültigkeit des Alltags zeigen. Aber das, was sich daraus
entwickelt, kann brandgefährlich werden.
Wie gefährlich, das weiß vor allem Kemper, der frustrierte, ausgebrannte
Mann vom Verfassungsschutz, dem nach dem Unfalltod seiner Frau
eigentlich alles gleichgültig ist. Über Umwege wird er auf das
aufmerksam, was sich im Umfeld der Moschee tut, in dem sich auch Max zu
bewegen beginnt; aber es interessiert ihn kaum. Der ganze Mann ist nur
noch Fassade, sein Arbeiten viel mehr Schein als Sein. Eine höchst
ungute Kombination …
Um Max und Kemper herum webt Agnes Hammer die Geschichten weiterer
Personen, wie die von Max’ Schwester Paula, die sich in Adil verliebt,
ohne es zu wollen, oder Kempers Schwester mit ihrem behinderten Sohn,
die lästigerweise bei ihm einziehen und ihn in seiner Trauer stören.
Alle haben sie große und kleine Verletzungen, alle verbergen sie Dinge
oder versuchen es zumindest, alle taumeln sie mehr oder weniger ziellos
durch ihr Leben. Was die Autorin aus diesen verschiedenen Strängen
flicht, ist eine spannende und trotzdem nachdenkliche Geschichte, die
den Leser allerdings mit so vielen traurigen Schicksalen konfrontiert,
dass ein Gefühl der Deprimiertheit bald wie ein grauer Schleier auf den
Seiten zu liegen scheint. Man kann das nicht lange an einem Stück
aushalten, all diese Einsamkeit, diese verpassten Chancen, diese inneren
Notlagen. Insofern braucht das Buch seine Zeit; die Geschichte lebt
ohnehin – ungewöhnlich für einen Thriller – nicht von ihrem Tempo,
sondern eher von dem Hinundher zwischen den Perspektiven der Personen
und von dem Ungesagten, Ungeschriebenen, das sich hinter den Zeilen
abspielt. Der Autorin gelingt es trotz der vielen Brüche, jeder der
Hauptpersonen ein eigenes Gesicht und eine eigene Stimme zu geben und
sie für den Leser nachvollziehbar zu machen. So sind sie vielleicht
nicht sympathisch, aber sehr, sehr menschlich. Vor allem an Max denkt
man noch lange, an den einsamen, chipsbekrümelten Jungen, dem das eigene
Leben so schlecht passt wie ein geborgtes Paar Schuhe …
Die Autorin hat ein gutes Gespür für Menschen und ihre Beweggründe, sie
beschreibt sie klarsichtig, voller verhaltenem Mitleid. Und während sie
sich so hauptsächlich mit dem Innenleben ihrer Figuren zu befassen
scheint, fühlt man doch von der ersten Zeile an, dass sich im
Hintergrund Bedrohliches zusammenbraut. Es ist vielleicht keine atemlose
Hochspannung, die so entsteht; einfach beiseite legen kann man das Buch
trotzdem nicht.
Fazit
„Regionalexpress“ von Agnes Hammer ist ein ungewöhnlicher,
nachdenklicher Thriller, der der Frage nachspürt, wie aus einem
unglücklichen deutschen Teenager ein gewaltbereiter islamischer
Fundamentalist werden kann. Er wartet nicht mit überraschenden
Erkenntnissen auf, dafür aber mit fein gezeichneten, vielschichtigen
Figuren, die man lange im Gedächtnis behält.
Pro und Kontra
+ sehr menschliche Charaktere
+ gekonnter Aufbau
+ unterschwellige Spannung
0 eher langsames Tempo für einen Thriller
- stellenweise zu sehr den typischen Erwartungen entsprechend
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Sprache: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5