Memento - Die Überlebenden (Julianna Baggott)

Lübbe Baumhaus (März 2012)
Originaltitel: Pure
Hardcover mit Schutzumschlag
461 Seiten, 16,99 EUR, ab 14 Jahren
ISBN: 978-3-8339-0113-3

Genre: Dystopie


Klappentext

Eine amerikanische Stadt, neun Jahre, nachdem die Bomben fielen. Majestätisch thront die Kuppel des Kapitols über den Trümmern – in ihr leben die Reinen, die Makellosen. Sie wurden auserwählt, eine neue, bessere Menschheit zu begründen. Unten in der Stadt kämpfen alle Übrigen ums Überleben.

Auch die 16-jährige Pressia hat es schwer, sich und ihren Großvater durchzubringen. Als sie Bradwell kennenlernt, fühlt sie sich auf merkwürdige Weise zu ihm hingezogen. Doch bald sind die beiden auf der Flucht vor dem Militär. Dabei treffen sie auf Patridge, der aus dem Schutz des Kapitols geflohen ist. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach einer wahrscheinlich tödlichen Wahrheit …


Rezension

Pressia lebt mit ihrem Großvater im ehemaligen Büroraum eines Friseurladens, der ebenso wie die übrige Stadt in Trümmern liegt. Einzig das Kapitol, ein gigantischer Kuppelbau, thront unversehrt über den aschebedeckten Ruinen. Es sind neun Jahre vergangen, seit die Bomben fielen und die Überlebenden werden von der sogenannten OSR – Operation Sakrale Revolution – terrorisiert. Alle sechzehnjährigen werden zum Dienst eingezogen: entweder werden sie zu Soldaten oder sie enden als lebende Zielscheiben. Presse wird sechzehn und ist fortan auf der Flucht. Bradwell hingegen gilt offiziell als tot und führt ein Leben im Untergrund. Zufällig platzt Pressia in eine Versammlung herein, bei der Bradwell als Verschwörungstheoretiker auftritt und das Kapitol beschuldigt, das Ende geplant zu haben. Dass sie alle einfach zum Sterben zurückgelassen wurden …
Patridge hingegen lebt im Kapitol und genießt eine umfangreiche Ausbildung in der Akademie. Einzig sein Lehrer Glassings fällt mit merkwürdigen Andeutungen auf – ansonsten ist Patridges Welt erschreckend perfekt. Effizient durchorganisiert, von der Fortpflanzungserlaubnis bis zur Gehirncodierung. Patridges Verhalten lässt sich allerdings nicht codieren, was seinen Vater, einen der Anführer im Kapitol, gelinde gesagt sauer stimmt. Er glaubt, dass Patridges Mutter ihm als Kind Medikamente verabreicht hat, die eine Codierung unmöglich machen. In der Tat stellt sich Patridge als wenig beeinflussbar heraus. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass seine Mutter noch lebt, und flieht aus dem Kapitol, um sie zu finden. In den Trümmern der Stadt begegnet er schließlich Pressia und Bradwell …

„Memento – Die Überlebenden“ ist einer von jenen Romanen, die den erwachsenen Leser etwas ratlos zurücklassen. Dystopien liegen im Trend, vor allem solche mit Liebesgeschichte für Jugendliche. Dadurch wirken die düsteren Szenarien oft etwas unglaubwürdig. Macht man es jedoch wie Julianna Baggott und kreiert eine wahrlich finstere Dystopie, in der Gefühle wie Liebe vom nackten Kampf ums Überleben verdrängt werden, gelangt man schnell zu der Frage, ob solche Bücher für junge Leser überhaupt geeignet sind. Denn „Memento“ zeichnet sich durch eine extrem negative Sicht auf den Menschen und eine kompromisslose emotionale Grausamkeit aus. Der Roman spielt in einer von nuklearen Bomben zerstörten und verseuchten Stadt, in der Menschen mit Gegenständen, Tieren oder gar anderen Menschen verschmolzen sind. In Bradwells Rücken sind lebendige Vögel eingeschmolzen. Pressia hat keine rechte Hand mehr, sondern einen Puppenkopf an ihrer Stelle. Viele Menschen haben Metall- und Glassplitter in ihrer Haut, manche sind zu Mehrlingen verschmolzen, bei denen man nicht weiß, wo ein Mensch anfängt und ein anderer aufhört. Die Welt dieser „Unglückseligen“ besteht aus geplünderten Ruinen, aus einem vor Asche und Staub trüben Himmel und nichts als kranker Erde, aus der giftige Pflanzen wachsen.

Julianna Baggotts Endzeitroman liest sich phasenweise wie blanker Horror und die Protagonisten sind schon zu Beginn der Geschichte so stark gezeichnet, dass man kaum Hoffnung für sie hat. Trotzdem kämpfen sie um das Recht auf die Wahrheit, auch wenn diese unvorstellbar grausam ist. Denn relativ bald wird klar: Bradwell ist kein verrückter Verschwörungstheoretiker, sondern hat etwas erkannt, was viele der Überlebenden in ihrem Elend nicht sehen wollen. Sie halten die „Reinen“ im Kapitol tatsächlich für bessere Menschen und glauben, dass sie über sie wachen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Reinen ihre Freunde und Nachbarn einfach zum Sterben zurückgelassen haben. Im Kapitol erzählt man den Kindern, dass die Unglückseligen bösartige Wesen wären, die sich gegenseitig auffressen. In vielerlei Hinsicht ist das Trümmermeer ein schrecklicher Ort, doch die Unglückseligen erweisen sich letztlich trotz ihres Elends als menschlich und mitfühlend. „Memento“ kreiert dabei eine bedrückende, düstere Atmosphäre, die den Leser schaudern lässt. Durchbrochen wird die Hoffnungslosigkeit von Erinnerungen, die sich die Überlebenden gegenseitig erzählen. In unserer Wirklichkeit unbedeutende Details werden für die Menschen in diesem Buch zu wertvollen Schätzen.

Die Autorin erzählt ihre Geschichte dabei im Präsens, was sich erstaunlich gut lesen lässt – es passt zum Roman, der gerade durch seinen distanzierten Stil die verzweifelte Hoffnungslosigkeit der Überlebenden veranschaulicht. Dazu gehören auch unfassbare Gräueltaten und die Beschreibung von Entwicklungen, die zu den Bombenangriffen geführt haben und diese danach rechtfertigen. Dem Leser wird verdeutlicht, wie grausam Menschen zu ihresgleichen sein können und es gibt diverse Szenen, die einem sauer aufstoßen. Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob eine Altersempfehlung ab 14 Jahren gerechtfertigt ist oder ob 16 Jahre nicht angemessener wären. Hinzu kommt, dass junge Leser mit der kalten und distanzierten Endzeitatmosphäre nicht zurechtkommen könnten. Julianna Baggott bemüht sich nicht, große Emotionen zu erzeugen, denn diese haben in dieser trostlosen Welt keinen Platz. Es gibt eine Liebesgeschichte (beziehungsweise zwei), aber diese entwickelt sich langsam und ist vom Unverständnis intensiver Gefühle wie Liebe geprägt. „Memento“ bietet keine Welt, in der sich junge Menschen ungestüm Hals über Kopf verlieben können. Junge Leser sollten die nötige Sensibilität für einen solchen Roman mitbringen, gleichzeitig könnte gerade diese dazu führen, dass „Memento“ als zu bedrückend und niederschmetternd erlebt wird. Damit wären wir am Ausgangspunkt der Rezension: einer gewissen Ratlosigkeit. Julianna Baggotts postapokalyptisches Szenario erfordert ein umfassendes Verständnis des gesellschaftskritischen Inhalts und lässt den Leser an der Menschheit / der Menschlichkeit zweifeln - und bietet dennoch leise Momente voller Wärme, die innerhalb des bedrückenden Szenarios geradezu verstörend wirken. Julianna Baggott hätte mit diesem Konzept besser einen Roman für Erwachsene verfasst – denn die Jugendbuchelemente wirken vollkommen deplatziert.

Nachdem die Autorin in der ersten Hälfte ihr beeindruckendes Szenario heraufbeschwört und kritische Fragen aufkommen lässt, widmet sie sich in der zweiten Hälfte einer eher jugendbuchtypischen Wendung. Die Charaktere finden auf schicksalsbedingte Weise zusammen, es gibt die großen Zusammenhänge, die jungen Protagonisten werden zu so etwas wie jungen Helden und am Ende hat sich eine Gruppe von Revolutionären gefunden, die wohl im zweiten Band das Kapitol angreifen werden. Auf dem Weg zum Widerstand gab es Opfer, die selbst erwachsene Leser kräftig schlucken lassen. Man darf gespannt sein, wie es mit „Memento“ weitergeht – denn der Roman ist durchaus gut, wenn auch nicht für jeden Geschmack geeignet. Man sollte sich unbedingt zuerst eine Leseprobe anschauen!


Fazit

„Memento – Die Überlebenden“ ist ein schwieriger Endzeitroman, der in die Sparte „Jugendbuch“ nicht recht passen will. Dazu ist Julianna Baggotts distanzierter Schreibstil in seiner Schlichtheit zu anspruchsvoll, die hoffnungslose und grausame Welt zu erschütternd. Die Protagonisten sind starke Charaktere, die zu viel durchlitten haben und im Kontext ihres zerstörten Lebens authentisch handeln – eine überschwängliche Liebesgeschichte wird man hier vergebens suchen. Ein beeindruckender und ungewöhnlicher Roman, der sich eher für erwachsene Leser eignet.


Pro & Contra

+ beklemmende, düstere Endzeitatmosphäre
+ starke Protagonisten mit besonderen Geschichten
+ leise Momente voller Wärme und Hoffnung
+ distanzierter und schlichter Schreibstil im Präsens
+ originelle Ideen / Verschmelzung mit Horrorelementen

o hoffnungslos und verstörend

- Jugendbuchelemente wirken vollkommen deplaztiert

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Julianna Baggott, Postapokalypse