Die Zwillinge von Highgate (Audrey Niffenegger)

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Fischer Verlag, 2. Auflage, April 2011
Taschenbuch, 464 Seiten,
(D) 9,99 | € (A) 10,30 | SFR 14,90ISBN:
978-3-596-18175-9
(gelesen im englischen Original)


Genre: Belletristik / Zeitgenössische Literatur (ausl.)


Klappentext

Elspeth war Roberts große Liebe. Jetzt liegt sie auf Highgate, dem romantisch verwildertem Friedhof Londons. Doch Elspeth scheint lebendiger als je zuvor, denn die Erinnerungen sind stärker als der Tod. Robert riecht sie, spürt sie, spricht mit ihr. Es ist als lebe sie weiter und als sei ihr Tod nur ein böser Traum. Alle, die ihr nahestanden, geraten in ihren Bann. Bis ihre Nichten, die Zwillinge Valentina und Julia eine fatale Wette mit ihr eingehen.

Vor der Kulisse des pulsierenden Londons erzählt Audrey Niffenegger aufwühlend, in zarten und manchmal dunklen Tönen, von der unstillbaren Sehnsucht, dem anderen ewig nahe zu sein. »Die Zwillinge von Highgate« ist Audrey Niffeneggers zweiter Roman und von noch größerer emotionaler Intensität als ihr Weltbestseller »Die Frau des Zeitreisenden«.


Die Autorin

Audrey Niffenegger lebt als Schriftstellerin und bildende Künstlerin in Chicago. Ihr erster Roman ›Die Frau des Zeitreisenden‹ steht seit Erscheinen 2004 auf den Bestsellerlisten und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Niffenegger liebt ›Alice im Wunderland‹ und Rilke, sammelt Schmetterlinge, Bücher und Comics.


Rezension

Der Klappentext spricht Sie nicht an? Gut, ignorieren Sie ihn, denn selten lag eine (deutsche) Inhaltsangabe so windschief wie die zu Die Zwillinge von Highgate. Als Liebesgeschichte angepriesen, widmet sich Niffenegger in diesem Buch vorherrschend anderen Themen: wie Identität, krankhafter/m Geschwisterliebe/-hass sowie Trennungen, in ihrer Endgültigkeit. Es geht um Abhängigkeiten und Zwänge, unterschiedliche Ängste und Fluchtarten. Aber auch Beziehungen und drastische Entscheidungen.

Alles beginnt mit dem Tod. Elspeth Noblin verliert den Kampf gegen den Krebs und lässt ihren jüngeren Geliebten, den Historiker und Friedhofsführer Robert trauernd zurück. Ihr Apartment, dessen Inhalt und ihr Vermögen vermacht sie den Töchtern ihrer Zwillingsschwester Edie, mit der sie seit über zwanzig Jahren nur noch spärlichen Schriftverkehr pflegt. Die Bedingungen für das Erbe sind allerdings streng formuliert, so müssen Julia und Valentina ein Jahr zusammen in der Wohnung leben, während ihren Eltern der Zutritt verwehrt wird. Die 20-jährigen Schwestern – selbst Zwillinge, Spiegelzwillinge um genau zu sein – ergreifen die Gelegenheit, ihrem langweiligen und ziellosem Leben in Chicago zu entkommen nur zu gern und ziehen nach London, wo sie ihre Tage mit Sightseeing und Shopping ausfüllen. Vor der berückend düsterromatischen Kulisse des berühmten Highgate Friedhofs, an den die Wohnung Elspeths anliegt, verstricken sich die Zwillinge immer mehr in den Leben der anderen Hausbewohner. Die schüchterne Julia fühlt sich sehr zu Robert, dem ehemaligen Geliebten ihrer Tante hingezogen und beginnt eine Beziehung mit ihm. Gleichzeitig kümmert sich Julia, die resolutere der beiden, um Martin, einen fanatischen Kreuzwortpuzzle-Fan und Erfinder, der unter Zwangsstörungen leidet und darüber von seiner Frau verlassen wurde. Neben den beiden Männern wohnt aber auch Elspeth selbst nach wie vor in der Wohnung, als Geist, dem es nicht möglich ist die eigene Wohnung zu verlassen. Am Anfang ist es nur Valentina, die sich der Präsenz bewusst ist, doch bald sind auch Julia und Robert auf ganz eigene Weise involviert.

Die Zwillinge von Highgate besticht vor allem durch ihre erstaunlich detaillierten und ausgereiften Charaktere, seien es die Zwillinge Julia und Valentina, deren Nähe manchmal geradezu beängstigend ist, Robert in seiner Zerrissenheit über die zwei Frauen in seinem Leben oder Martin – der heimliche Star des Buches. Nach und nach erhält man als Leser einen Einblick in dessen fein porträtierte Zwangsstörungen. Stundenlange Duschen, Keimneurosen und seltsame Zahlenkombination zur Überwindung von Hindernissen sind nur ein kleiner Teil seines Lebens. Die Wohnung hat er seit Jahren nicht verlassen können, und nach Jahren des Mitleidens hat ihn nun seine Frau verlassen, obwohl die Liebe noch in beiden Herzen schlägt.

Voneinander lassen (können) ist das zentrale Thema des Buches. Seien es nun die Zwillinge, die zuerst wie Kletten aneinander hängen und nun schmerzhaft auseinanderdriften, Elpeths Liebe zu Robert, die sie den Tod überdauern und eifersüchtig wachen lässt, oder Martins Verlangen nach seiner Frau, das, obwohl unendlich stark, nicht vermag, ihn über die Türschwelle zu tragen. Dann gibt es da noch das Familiengeheimnis der Noblins, das die Schwestern Edie und Elspeth vor 21 Jahren entzweite und seinen Schatten bis in die Gegenwart wirft.

Sensibel und aus der Sicht der unterschiedlichen Charaktere entfalten sich die verschiedenen Schicksale, gehen teilweise erstaunliche Wendungen, um am Ende in eine wahre Verzweiflungstat zu münden. Der überraschenden Entwicklung im Julia/Valentina-Konflikt folgen allerdings noch einige Ereignisse, die das Ende leicht abstrus werden lassen. Hier wäre weniger wahrhaftig mehr gewesen.


Fazit

Die Zwillinge von Highgate ist ein Portrait zweier junger Frauen, die im Zuge eines Erbes zum ersten Mal die Unabhängigkeit voneinander kosten, aber ganz unterschiedlich damit umzugehen wissen. Audrey Niffenegger verknüpft gekonnt die Geschichte um die eigene Identität mit dem Schicksal der unterschiedlichsten Charaktere, auch über den Tod hinaus, und bietet so eine gelungene Mischung aus Thriller, Liebesgeschichte und Drama.


Pro & Kontra

+ fein gezeichnete Charaktere
+ spannender, abwechslungsreicher Plot vor interessanter Kulisse
 
- Wendungen nach dem geschichtlichen Höhepunkt


Wertung: alt

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 5/5