Hemmersmoor (Stephan Kiesbye)

Verlag: Tropen bei Klett Cotta (Februar 2011)
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten, € 17,95
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3608502084

Genre: Thriller


Klappentext

Ein kleines Dorf im norddeutschen Teufelsmoor, Jahre nach dem Krieg. Eine Kneipe, wo die Alten von Wiedergängern und Irrlichtern reden. Ein Gutshaus, dessen Besitzer die Menschen im Dorf verachten und manipulieren. Eine alte Fabrik, nach der niemand zu fragen wagt. Hier wachsen Christian und seine Freunde auf, in einer verwunschenen Atmosphäre aus Aberglauben, Inzest und Brutalität. Tiefschwarz und erschreckend direkt schildert Stefan Kiesbye das Leben dieser jungen Menschen und des Dorfes. Dabei macht er uns vertraut mit den Abgründen, die hinter jedem Fenster und am Ende jedes Feldweges lauern können.


Rezension

Nach dem Tod einer Freundin aus Kindetagen kommt Christian zur Beerdigung nach Hemmersmoor zurück, dem kleinen Dorf in Norddeutschland, in dem er aufgewachsen ist. Dabei treffen sich auch die übrigen Freunde Linde, Alex und Martin, die das Dorf nicht verlassen haben. Die Begegnung weckt bei jedem diverse Erinnerungen, und nur die wenigsten davon sind angenehm ...

Hemmersmoor erzählt in Ich-Form die Geschichte einer unglücklichen Kindheit, abwechselnd und in Rückblenden geschildert aus der Sicht von vier verschiedenen Personen, die alle ihre eigenen Facetten zum damaligen Geschehen beizutragen haben. Die Story setzt sich auf diese Weise wie ein großes Puzzle nach und nach zusammen und fördert immer neue Gräuel und Schrecklichkeiten ans Tageslicht.
Der Autor verwendet einen klaren, eingängigen Sprachstil, der eine dichte Atmosphäre erzeugt und die gruselige Stimmung ausgezeichnet vermittelt. Interessant ist dabei zu beobachten, dass die jeweiligen Erzählungen seltsam distanziert und beiläufig anmuten, dass die Protagonisten zwar schlimme Dinge tun, dabei aber weder von übermäßigen Scham- noch Schuldgefühlen geplagt werden und eigenartig emotionslos wirken. Auf diese Weise erscheinen die Charaktere stark unpersönlich und wenig individuell, es entsteht, vermutlich beabsichtigt, der Eindruck, dass sie sich gar nicht erinnern und sich auch nicht mit ihren damaligen Taten identifizieren wollen

Das Dorf Hemmersmoor könnte überall gelegen sein, seine Einwohner benehmen sich typisch für kleine Ortschaften. Das bedeutet, wer fremd ist, bleibt fremd, auch wenn er seit Jahrzehnten ansässig ist, Aberglaube und Vorurteile sind allgegenwärtig und selbst wenn man untereinander bis aufs Blut verfeindet ist, es wird nichts nach Außen getragen und alles unter den Teppich gekehrt.
Beinahe jede Familie hat ihre Leichen im Keller, Inzest, Gewalt, Intrigen, seelische Grausamkeiten bis hin zu Mord, nichts scheint in diesem Ort unmöglich. Genau hier setzt auch ein wesentlicher Kritikpunkt an: Es liegt hart an der Grenze der Glaubwürdigkeit, was in einem solch kleinen Dorf alles an geballten Schrecknissen passiert ist, und dass nichts davon ernstliche Folgen hat.

Dennoch zieht die Geschichte den Leser in ihren Bann, man wird Stück für Stück in die Handlung hineinverwoben und erlebt hautnah mit, wie sich die Beziehung der Protagonisten untereinander entwickelt.
Es existieren praktisch keine Höhepunkte und keine wirklichen Spannungselemente, man findet keine Mördersuche oder detektivische Puzzlearbeit, und wenn etwas passiert, sind Täter, Tathergang und Intention meist bekannt und kaum überraschend. Nicht einmal eine Identifikationsfigur lässt sich ausmachen. Der Reiz dieser Lektüre, die trotzdem sehr stark unter die Haut geht, liegt an der Art der Schilderungen, die von einer eigenartigen Gefühls- und Gewissensarmut geprägt sind. Dadurch baut sich kontinuierlich ein fast schon körperlich spürbares ‚Angewidertsein’ auf, dem man sich nur schwer entziehen, und welches für das Gemüt des Lesers zu einer echte Belastungsprobe werden kann.

Mit 200 Seiten mag das Buch wie ein Leichtgewicht aussehen, doch die Geschichte erscheint dermaßen kompakt und eindringlich, dass der gefühlte Umfang problemlos die doppelte Größe einnimmt. Leider hat der Autor versäumt, den Episodencharakter der einzelnen Erinnerungen gegen Ende zu einem stimmigen Ganzen zusammenzuführen; als Leser hat man ein wenig das Gefühl, in der Luft hängen gelassen worden zu sein, doch das tut der Gesamtwirkung nur wenig Abbruch.

‚Hemmersmoor ist der Eingang zur Hölle’, wie es ein Schausteller im Buch ausdrückt, und auch wenn die Story keinen Horror im klassischen Sinn bietet, auf eine gewisse Weise liegt er damit absolut richtig.


Fazit

Ein Geheimtipp im Genre und sicher nicht jedermanns Sache. Doch wer empfänglich für schaurige Stimmungen und Atmosphäre ist, und sich auf Stephan Kiesbyes ‚Hemmersmoor’ einlässt, bekommt Nervenkitzel der besonderen Art.


Pro & Kontra

+ großartig gruselige Atmosphäre
+ ansprechender Schreibstil
+ sehr stimmungsvoll
+ Cover passend zur Story

o Erzählung aus der Ich-Perspektive
o verschiedene Sichtweisen

- unglaubwürdig weil etwas zu übertrieben
- starker Episodencharakter
- leider kein Lesebändchen  

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5