Winterkind (Lilach Mer)

Dryas Verlag (September 2012)
Taschenbuch, 280 Seiten, 12,95 EUR
ISBN: 978-3-940855-36-7

Genre: Historik mit phantastischen Elementen


Klappentext

Niedersachsen, um 1880, im tiefen Winter.

Eigentlich müsste Blanka von Rapp glücklich sein: Sie ist schön, ihre Haut ist weiß wie Schnee, ihre Haare sind schwarz wie Ebenholz. Und sie ist reich, ihrem Mann gehört die Glasfabrik, deren Turm das Dorf überragt. Trotzdem ist sie unglücklich. Wie ein Schatten liegt die Angst über allem, was sie tut, die Angst vor einer Toten.

Als die Geschäfte ihres Mannes schlechter laufen, wächst unter den Arbeitern in der Glashütte die Unzufriedenheit. Gerüchte über einem Aufstand häufen sich. Während Blankas Mann verreist, eskaliert die Situation. Blanka muss sich nicht nur der Gegenwart, sondern auch den Geheimnissen der Vergangenheit stellen. Denn der tiefe Schnee, der das Herrenhaus umschließt, lässt sie nicht entkommen.


Rezension

Blanka von Rapp ist wunderschön, verlässt jedoch niemals das Haus. Nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter kann sie sich überwinden und lässt Mann und Kind alleine reisen. Das Verhältnis zur Mutter war schlecht, seit der Hochzeit, zu der sie nicht erschien, kaum mehr vorhanden. Dennoch fiebert Blanka ihrem einzigen Erbstück, einem gigantischen Spiegel entgegen. Beinahe will sie über die Türschwelle treten, dem Spiegel entgegenlaufen, doch sie bleibt hinter dem Fenster und starrt gebannt in den Winter. Ihr Mann Johann, ein wohlhabender Kaufmann, ist zwar deutlich älter, aber ein liebevoller Vater und Ehemann. Um seine Frau, die er als zart und zerbrechlich empfindet, zu schützen, erzählt er ihr nichts von den Geldproblemen. Eines Morgens reist er plötzlich ab, Blanka vermutet geschäftliche Angelegenheiten dahinter, ahnt aber noch nicht, wie schlecht es um die Glashütte steht. Die Hausherrin bleibt mit der Gouvernante Sophie, dem Dienstmädchen Lieschen und ihrer erkrankten Tochter Johanna allein zurück – und der Zahltag rückt immer näher …

„Winterkind“ wartet ebenso mit einem historischen Setting auf wie „Der siebte Schwan“, enthält allerdings weniger phantastische Elemente. Sie sind da, aber so hintergründig, dass man sie kaum bemerkt. Zum einen wäre da Blankas Ähnlichkeit zu Schneewittchen. Ihre Haut ist blass, beinahe weiß, ihr Haar schwarz wie Ebenholz. Ihre Mutter eine verbitterte Frau, die an ihrem Spiegel hing. Dieser sagt ihr zwar nicht, dass sie die schönste im Land ist, hat aber durchaus einen unheimlichen Einfluss. So auch auf Blanka, als sie ihn erbt. Einerseits fürchtet sie sich vor dem massiven Spiegelglas, andererseits hängt ihr Herz an dem monströsen Ding. Und während Blanka sich um ihre kranke Tochter kümmert, was mehr und mehr Kräfte verzehrt, erlangt der Spiegel Macht über sie. Ob das nun phantastisch ist, oder nur das Aufbrechen traumatischer Erlebnisse aus Blankas Kindheit, ist dem Leser selbst überlassen. Blanka ist zunächst tatsächlich eine zerbrechliche junge Frau, doch der Spiegel macht sie eisig kalt.

Die Gouvernante Sophie ist die zweite Frau des späten 19ten Jahrhunderts, die Lilach Mer ebenso facettenreich wie Blanka beschreibt. Beide Frauen sind starke Charaktere. Blanka in ihrer Rolle als Hausherrin und Schneewittchen, Sophie als toughe Gouvernante. Eine vernünftige Frau wird sie genannt, wäre sie ein Mann gewesen, wäre ihr sicherlich ein Studium offengestanden. Doch in Sophies Welt studieren Frauen nicht. Sie werden besser Kindermädchen wie sie. Dabei kümmert sie sich gerne um Johanna, hat den kleinen Fratz richtig in ihr Herz geschlossen. Doch Sophie kümmert sich ebenso um Blanka und steht ihr zur Seite, selbst, als diese immer kälter und distanzierter wird. Oftmals wirkt Sophie burschikos, doch im Kontakt zu Willem, einen der Arbeiter, lernt der Leser auch ihre weibliche Seite kennen. Eine sehnsüchtige Seite, die sich über die schamlosen Annäherungsversuche empört, allerdings bereitwillig über sich ergehen lässt.

Lilach Mers Schreibstil ist auch in „Winterkind“ schwer von kleinen Details und kunstvollen Formulierungen. Anfangs muss man sich wieder einfinden in diese dichte Atmosphäre, es scheint, als würde man das Herrenhaus und die Glashütte in einer Schneekugel beobachten. Doch sehr bald ist man innerhalb dieser Schneekugel und lebt für eine kurze Weile im tiefsten Winter des 19ten Jahrhunderts. Kaum zu glauben, dass „Winterkind“ fast nur im Herrenhaus des Rapps spielt, manchmal noch bei der Glashütte. Man erkundet die verschiedenen Räume des Herrenhauses als wären es verschiedene Länder. Die Spannung bleibt dabei konstant erhalten, auch wenn sie sich „nur“ auf das Geheimnis des Spiegels und die Entwicklung der beiden Frauen bezieht. Zum Ende hin wird es regelrecht dramatisch und die Ängste der beiden Frauen greifbar.

„Winterkind“ ist ebenso wie „Der siebte Schwan“ ein Roman für den langsamen Genuss. Man muss diese Detailverliebtheit mögen – zum 19ten Jahrhundert passt sie perfekt. Gespickt mit verschiedenen Anspielungen auf das Märchen um Schneewittchen und die tragischen Ereignisse aus Blankas Kindheit wird Lilach Mers Romans selbst zu einem unheimlichen Märchen. Stück für Stück offenbart sie dabei Blankas verdrängte Erinnerungen, nie zu viel und nie zu wenig. Ein wenig erinnert der Roman an eine Gothic Novel, insbesondere in der zweiten Hälfte. Am Ende sind einem Blanka und Sophie sehr ans Herz gewachsen, selbst die kleine freche Johanna. Schade, dass „Winterkind“ nur 280 Seiten hat.


Fazit

„Winterkind“ wartet mit einer dichten Winteratmosphäre und viele Details auf, die den Leser mitten ins 19te Jahrhundert ziehen. In eine Welt, in der Frauen noch Frauenarbeit zu tun hatten, in der sie jedoch auch über sich hinaus wachsen können. Lilach Mers Schreibstil ist gewohnt feinfühlig und lädt zum langsamen Genuss ein – ein märchenhafter Roman über das Schicksal zweier ganz besonderer Damen.


Pro & Contra

+ starke Frauencharaktere
+ Geheimnisse um den Spiegel und Blankas Vergangenheit
+ dichte, eisige Atmosphäre
+ feinfühliger, detailverliebter Schreibstil
+ gelungene Inszenierung des 19ten Jahrhunderts

o Schreibstil sicherlich für manchen gewöhnungsbedürftig

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


Rezension zu "Der siebte Schwan"

Interview mit Lilach Mer (März 2011)