S. Fisher Verlag, 1. Auflage 2011
Taschenbuch, 280 Seiten
€ 16,99 [D] € 17,50 [A] SFR 25,90
ISBN: 978-3-10042-206-4
Genre: Belletristik
Klappentext
»Wann ist denn nur alles so kompliziert geworden?«
Luise und Flo sind ein Paar und beschließen, endlich erwachsen zu werden. Sie suchen eine Wohnung, ziehen zusammen, schaffen sich ein gemeinsames Bett an und tanzen zu Manfred Krug durch ihre neuen Zimmer. Doch nach kurzer Zeit stehen sie im Flur nebeneinander wie zwei an der Raststätte vergessene Kinder. Luise hat das Gefühl, nur Erwachsen zu spielen. Irgendwie ist dieses Leben falsch. Als ob jemand plötzlich alles verwandelt hätte, die Regeln geändert für das Leben ab dreißig oder so.
So berührend wie lustig, ernsthaft und klug erzählt Sarah Kuttner von der heillosen Überforderung durch das längst überfällige Erwachsensein und von der Sehnsucht nach einem eigenen, richtigen Leben.
Über die Autorin
Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen ‚Sarah Kuttner – Die Show‘ (VIVA) und ‚Kuttner.‘ (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Zuletzt war sie dort mit ‚Kuttners Kleinanzeigen‘ und ‚Ausflug mit Kuttner‘ zu sehen. Ihre kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. ‚Mängelexemplar‘ (2009) war ihr erster Roman und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Sarah Kuttner lebt in Berlin.
Rezension
Sarah Kuttner – das ist typisch frei Schnauze. Direkt und gerne auch gegen die Wand, ohne dabei verletzend oder abwertend zu sein und all dies mit einer Lockerheit, die manch einen nur verwundert den Kopf schütteln lässt. Im Fernsehen moderierte Kuttner einst bei dem Musiksender Viva, heutzutage führt sie interessante Interviews mit Til Schweiger, Lena Meyer-Landrut, gerne auch Stefan Mross und anderen am Rande einer Kartbahn, auf einem Bauernhof oder während des Schlenderns durch ein Museum. Kuttner ist wandlungsfähig und zeigt sich nicht nur im direkten Kontakt mit einem Gegenüber überaus talentiert. Ihre Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung sowie ihr letztes Buch Mängelexemplar sorgten für Aufsehen. Nun legt die Berlinerin nach und beweist, dass sie keine Eintagsfliege ist.
Auf den ersten Blick liest dich die Zusammenfassung zu Wachstumsschmerz recht schlicht, auch wenn das Buch genau dort anfängt, wo die meisten Romane aufhören. Luise und Flo leben ihr Happy End. Seit drei Jahren sind die beiden nunmehr zusammen, und eigentlich sind beide glücklich mit ihrer Situation, gäbe es da nicht diesen Druck von außen, dieses nagende Gefühl, nach so langer Zeit zusammen den nächsten Schritt machen zu ‚müssen‘. Für ein Kind fühlen sich beide nicht bereit, daher soll zunächst eine gemeinsame Wohnung her – aber natürlich im richtigen Kiez.
Nach endlosen Monaten der Suche, die zumeist Luise übernommen hat, findet sich ein wahres Schmuckstück. Über die große Panik hilft der Alkohol, und mit Hilfe von Flos Kumpels aus der Kletterhalle befinden sich die Möbel schneller in der neuen Wohnung als Luise verarbeiten kann. Nach drei Wochen wird aus dem Gefühl der Fremde endlich ein Zuhause, wenig später das Zusammenleben aber gerade für Luise immer mehr zum Ringen nach Luft, denn aus einem entspanntem Du + Ich wird dank Flo beständig ein zermürbendes WIR. Auch beruflich wird Luise immer öfter die Luft knapp. Als gelernte Herrenschneiderin sieht sie sich für den Rest ihres jungen Lebens Anzüge fertigen. Kein so erschreckendes Bild, gäbe es nicht ihren Vater und ihre Schwester, die sie fragen, ob sie nicht mehr vom Leben will. Und genau so fangen Luises Probleme erst an, denn diesen Wunsch nach Mehr kann sie nicht in sich finden. Sie hat kein Brennen für ein Ziel, keinen großen Traum. Eigentlich treibt sie nur, und obwohl sie damit nicht unglücklich ist, beginnt sie nach und nach an dieser Art des Lebens zu zweifeln. Irgendwie fühlt sie mit der Zeit alles nur noch falsch an.
»Unglaublich eigentlich, dass sich jedes Treffen mit meinem Vater anfühlt wie ein unfreiwilliges Blind Date. Jedes Mal vermittelt er mir den Eindruck, dass er in Gedanken woanders ist und es auch körperlich gern wäre.
Und so sitzen wir also schon wieder schweigend, unfähig, eine halbwegs okaye Verbindung zwischen uns aufzubauen, in einem Straßencafé und rühren träge in unserem Unwohlsein herum.« (Seite 147)
Intelligent, mal mit einem lächelnden Auge, mal mit drückendem Herzen, aber stilistisch immer ungezwungen, widmet sich Kuttner in Wachstumsschmerz der gern ignorierten mentalen Seite des Wachstums. In einer Welt, die immer mehr Menschen durch ihre Möglichkeiten überfordert, beschreibt sie einfühlsam das Ringen mit sich selbst und den Ansprüchen, die die Umwelt an einen zu stellen scheint. Verwirrung und der Wunsch nach Führung stehen eindeutig im Vordergrund, die ‚Isolation‘ des Erwachsenen, der sich insgeheim oftmals zurück sehnt in eine Zeit der Unmündigkeit.
»Ich habe das Gefühl, Ballast abwerfen zu müssen. Obwohl es draußen immer kälter wird, steht mein Leben immer noch leicht bekleidet vor der Tür und glotzt erwartungsvoll und gleichzeitig mahnend. (…) Ich bin immer wieder ganz verliebt in die Klimazone, in der ich lebe. Ich liebe es, dass es vier relativ ausgeglichene Jahreszeiten gibt. (…) Vier Jahreszeiten bedeutet, dass man sich viermal im Jahr auf das kommende Wetter freuen kann, und immer dann, wenn man die Schnauze voll von der aktuellen Jahreszeit hat, steht schon die nächste unten im Hausflur und drückt schon mal den Fahrstuhlknopf. Und während der Herbst bereits oben in der Wohnung ist, es draußen anfängt, nach Ofenheizung zu riechen, und die große Zeit der Einigelung geläutet wird, fühle ich mich zum ersten Mal nicht wohl in meiner Herbsthaut. Alle Bäume in mir werfen ihr Laub ab, aber keiner kommt zum Harken vorbei, so dass alles furchtbar unordentlich ist und raschelt.
(…) stelle ich erleichtert fest, und führe mein Stück Kuchen auf die Straße vor das Café. Ich muss harken in mir. Wenigstens ein wenig, sonst fängt der ganze Mist an zu Schimmeln. « (Seite 179 ff)
In den kurzen Kapiteln, die teils durch bewegend wehmütige Memos von Luise an Flo unterteilt werden, erlebt man die Entwicklung der Beziehung zwischen Flo und Luise. Dabei wechseln sich amüsante Gedanken und Wortspiele, mit tragischen Momenten und Einblicken so tief, dass man am Grunde vielleicht sich selbst erschrocken zurückblicken sieht. Stilistisch auf den Punkt, und selbst im Wortspiel erstaunlich treffsicher beweist Kuttner nicht nur ihr Gefühl für Menschen, sondern eine klare Sicht auf den Leser selbst. Hier wird Gegenwart gelebt, in allen Facetten. So entsteht auch auf einer geringen Seitenzahl ein komplexes und vielschichtiges Werk, das sich weder in die Schublade Liebesroman, existenzielles Drama oder Jugendbuch stecken lassen kann und auch nicht muss.
Fazit
In einer Welt von Überangebot, Reizüberflutung und Wohlstandslethargie trifft Sarah Kuttner die Seele des (jungen) Lesers. Traurig anrührend in seinem Realismus, verführerisch durch leise und humorvolle Töne und im Wortspiel oftmals (erfrischend) überraschend weiß Wachstumsschmerz zu überzeugen.
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5