Mängelexemplar (Sarah Kuttner)

kuttner s-mngelexemplar

Fischer Verlag, 9. Auflage November 2011
Taschenbuch, 263 Seiten
8,99 € (D); 9,30 (A)
ISBN 978-3-596-18494-1

Genre: Belletristik


Klappentext

»Die Psyche ist so viel komplizierter als eine schöne glatte Fraktur des Schädels.«

Karo lebt schnell und flexibel. Sie ist das Musterexemplar unserer Zeit: intelligent, selbstironisch und liebenswert. Als sie ihren Job verliert, ein paar falsche Freunde aussortiert und mutig ihre feige Beziehung beendet, verliert sie auf einmal den Boden unter den Füßen. Plötzlich ist die Angst da.

»Das richtige Buch zur richtigen Zeit. « stern.de

»Ich war von der ersten Seite an einfach begeistert. (...) Ein Buch, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer – jeden Alters.« Dieter Moor, ARD, ttt


Über die Autorin

Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen ‚Sarah Kuttner – Die Show‘ (VIVA) und ‚Kuttner.‘ (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Zuletzt war sie dort mit ‚Kuttners Kleinanzeigen‘ und ‚Ausflug mit Kuttner‘ zu sehen. Ihre kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. ‚Mängelexemplar‘ (2009) war ihr erster Roman und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Sarah Kuttner lebt in Berlin.


Rezension

»Eine Depression ist ein fucking Event.« (Zitat, Seite 1.)

Ein Event, auf das Karo wirklich zu gern verzichtet hätte. Eigentlich ist sie auch nur zur Therapie gegangen, weil sie gerade Zeit hat. Sie hat ihre Arbeit verloren, viele ihrer Freunde aussortiert und mit ihrem Freund Phillip verbringt sie auch nicht so viel Zeit, denn eigentlich mögen sich die beiden nicht, sondern sind nur noch zusammen, weil die Alternative Alleinsein wäre. Karo nutzt ihre Freizeit also für einen TÜV des Verstandes, aber schon die erste Stunde nimmt sie arg mit; und obwohl sie glaubt ihre Kindheit verarbeitet zu haben, wird in den Sitzungen so viel aufgewühlt, dass sie in eine Depression schlittert. Schon bald lassen Angstattacken das Alleinsein für sie zur Unmöglichkeit werden, sie muss wieder bei ihrer Mutter einziehen und sogar Medikamente nehmen, um überhaupt funktionieren zu können. Sie wird Dauergast auf der Couch ihrer Therapeutin, entfremdet von sich und der Welt - ein Mängelexemplar.

»Morgens traurig zu sein, ist viel schlimmer als tagsüber oder gar abends traurig zu sein. Abends traurig zu sein, ist am besten, denn dann kann man im Grunde sofort ins Bett gehen, einschlafen und für ein paar Stunden alles andere als traurig sein. Pornostar zum Beispiel. Oder Profifußballer (davon träumen Jungs doch noch?).

(...) Ich bin den ganzen Traum über erleichtert und wirklich glücklich. (...)

Und wenn ich aufwache werde ich noch mal ganz jungfräulich entherzt. Nach acht Stunden Schlaf noch einmal neu verlassen. Jeden verdammten Morgen. Den ganzen Körper noch voll von diesen rosa Hormonen, die einen glücklich machen, und kaum wacht man auf, rülpst einem die Realität mit ungeputzten Zähnen ins Gesicht und brüllt: »Reingelegt!« und »Ich werde den ganzen Tag mit dir verbringen!« Zwölf bis achtzehn Stunden Schmerz liegen ausgebreitet wie ein roter Teppich vor einem.« (Zitat, Seite 60 f)

Sarah Kuttner hätte sicherlich ein einfacheres Thema finden können für ihr Romandebut, aber sicherlich kaum ein Aktuelleres. Depressionen sind in unserer Gegenwart präsenter denn je. Schätzungen zufolge ist mittlerweile jeder 10te betroffen, sei es aus Überforderung, Einsamkeit oder gar medizinischen Ursachen. Dabei überrascht die Autorin nicht nur in der Themenwahl, sondern auch und vor allem mit Inhalt.

Mit einem unvergleichlichen Stil führt Kuttner den Leser durch Karos Höhen und Tiefen, dabei stets erfrischend und humorvoll, an mancher Stelle jedoch gleichzeitig so bedrückend sensibel, dass einem das Lachen auf halben Weg im Hals stecken bleiben möchte. Denn trotz aller Witze, die Karo macht – und das sind reichlich – erlebt der Leser Seite um Seite mit, wie ein Mensch zu zerbrechen droht.

Karos lebendiger Charakter reißt mit und begeistert. Sie wirkt authentisch im Umgang mit ihrer Depression, die sie als Kopfmensch vor allem zu analysieren und zu bekämpfen versucht. Unruhig wie sie ist wird dabei auch die empfohlene CD zum autogenen Training für sie zur Zerreißprobe, und so werden erst einmal die Titel mit dummen Namen gelöscht, Panflöten und Windspiele vorgespult und die Ansagen der Sprecherin mit so viel Sarkasmus bedacht, das man als Leser kaum an sich halten kann.

Auch die Nebencharaktere müssen sich nicht verstecken, denn abgesehen vom (Ex-) Freund Phillip, der leider, aber auch zurecht etwas blass bleibt, hat jeder eine überzeugende Persönlichkeit bekommen. Sei es der schräge beste Freund Nelson, der aus Spaß mit ihr Beziehungsstreits in der Öffentlichkeit inszeniert, oder Karos Mutter, die ebenfalls an Depressionen leidet, dennoch sofort an die Seite ihrer Tochter eilt und deren Übersprungshandlungen stets mit einem wissenden Lächeln bedenkt. Sie alle sind das Seil, an dem Karo sich aus der Depression zu ziehen versucht. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht, denn Depression ist eine Krankheit, die sich eben nicht nur im Kopf abspielt


Fazit

Obwohl der Name Mängelexemplar ausgezeichnet gewählt ist, wird das Wort dem Inhalt alle andere als gerecht. Humorvoll und einfühlsam, spritzig und mit so manchem lockeren Spruch auf den Lippen zeichnet Sarah Kuttner auf unterhaltsame, zugleich aber auch nachdenkliche Weise das Bild einer jungen Frau, die sich in der modernen Welt an eine Depression zu verlieren droht. So müssen Romandebuts aussehen!


Pro & Contra

+ Kuttners Stil und Wortwitz
+ authentische Charaktere
+ Themenwahl und Verarbeitung

Wertung: alt

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5