Purpurdämmern (Andrea Gunschera)

Ueberreuter (Januar 2013)
Hardcover, 511 Seiten, 19,95 EUR
ISBN: 978-3-8000-5713-9

Genre: Urban / High Fantasy


Klappentext

Ken lebt in Detroit mit einem prügelnden Vater, einer Mutter, die sich vor der Gewalt in eine Traumwelt flüchtet, und einem kleinkriminellen Bruder. In einem alten Straßenbahndepot, in das Ken flieht, wenn er es zu Hause nicht mehr aushält, kommt es eines Tages zu einer wundersamen Begegnung mit der schönsten jungen Frau, die Ken je gesehen hat. Alles, was von dem flüchtigen Besuch bleibt, ist eine Akelei-Blüte, die auch Jahre später nicht verwelkt ist, als Ken die junge Frau wiedersieht - die dieses Mal gekommen ist, um ihn auf das unvorstellbarste Abenteuer seines Lebens mitzunehmen


Rezension

Kens Familiensituation ist katastrophal, aber leider nicht selten: der Vater verprügelt im Suff die Mutter, der älteste Bruder arbeitet an seiner kriminellen Karriere und der jüngste sieht im gewalttätigen Vater ein Vorbild. In seiner Hilflosigkeit flüchtet sich Ken ins Depot, einen verlassenen Bahnhof, in dem er seinen Entdecker-Träumen nachhängen kann. Auch in der Schule läuft es nicht besonders gut, da viele Ken mit seinem verkorksten Vater und Bruder in eine Schublade stecken. Da taucht plötzlich das Mädchen, das Ken in seiner Kindheit einmal begegnet war und eine niemals welkende Akelei-Blüte zurückgelassen hat, wieder auf, drückt ihm frech einen wilden Kuss auf den Mund und verschwindet. Kurz darauf wird Ken von den Schlägerfreunden seines Bruders angegriffen und beinahe krankenhausreif geschlagen. Als sie die Waffen ziehen, rettet der mysteriöse Santino Ken das Leben – und stolpert mit ihm in eine fremde Welt, die nur eine von tausenden ist …

„Purpurdämmern“ ist eine farbenfrohe Mischung aus Urban und High Fantasy-Elementen, die auf Anhieb überzeugt. Das Detroit der Armen und Kriminellen steht einer noch düstereren und leicht surrealen Version von sich gegenüber, die zu den sogenannten Dämmerschatten gehört. Ken landet vollkommen unvorbereitet in dieser verdrehten Version seiner Welt, in der man das Gewebe der Realität mit Leichtigkeit manipulieren und somit Magie wirken kann. Für die Fayeí-Prinzessin Marielle hingegen, das seltsame Mädchen, das Ken gleich zwei Mal überrumpelt hat, ist Magie etwas vollkommen Alltägliches. Sie selbst kann zwar nicht das Gewebe formen, jedoch Tore in andere Welten öffnen, was ihr plötzliches Erscheinen und Verschwinden erklärt. Diese Fähigkeit nutzt sie, um ihrem friedlichen Leben in Níval, der schillernden Welt der Nebel-Fayeí, spannende Abenteuer entgegenzusetzen. Als sie zwangsverheiratet werden soll, nutzt sie ein solches Tor zur Flucht. Ihr dicht auf den Fersen ist der Kriegermagier Santino, ihr bester Freund und Lehrer.

Ken ist eigentlich ein vernünftiger und ruhiger junger Mann, der jedoch unter der schweren Familiensituation leidet und seinem Vater und Bruder nichts entgegenzusetzen hat – außer der Hoffnung, sich ein Stipendium fürs College erarbeiten zu können. In seiner jugendlichen Naivität träumt er davon, genug Geld zu verdienen, um seiner Mutter und dem kleinen Bruder ein neues Leben ermöglichen zu können. Als er jedoch mit Marielle, Santino und den Dämmerschatten konfrontiert wird, wandelt sich seine Passivität in Aktivität. Zum einen muss er mit der neuen Situation und diesem unvorstellbaren neuen Weltbild klarkommen, zum anderen wird er vor allem durch Santino dazu ermuntert, sein eigenes Potential auszuschöpfen. Es macht großen Spaß zu lesen, wie Ken nach und nach an Selbstbewusstsein gewinnt und sich den magischen Welten öffnet. Auf diese Weise wird er selbst zum Entdecker und blüht regelrecht auf.

Marielle ist eine temperamentvolle junge Frau, die vom Leben am Hof etwas verwöhnt ist und die Gefahren der fremden Welten unterschätzt. Mit ihrer leidenschaftlichen Art gewinnt sie schnell die Sympathien des Lesers, doch ihre jugendliche Trotzigkeit kann auch anstrengend werden und die ganze Geschichte durcheinanderwirbeln. Auch sind ihre Handlungen nicht immer nachvollziehbar. Marielle wird von der Purpurkatze Nessa begleitet, die eine aristokratische Arroganz an den Tag legt und ihre Herrin immer wieder vor Santino warnt. Der Magier scheint tatsächlich finstere Geheimnisse zu haben, was ihn besonders interessant macht. Während „Purpurdämmern“ für jugendliche Leser vor allem durch Ken und Marielle spannend wird, ist für Erwachsene vor allem Santino der faszinierende Charakter. Alle drei zusammen ergeben ein lebhaftes Gespann, das die Leserschaft unheimlich gut unterhält.

Das Weltdesign von „Purpurdämmern“ ist sehr komplex – man braucht eine ganze Weile, bis man mit den Begriffen Scharlachrot, Dämmerschatten, Rabenfächer und Zeithorizont etwas anfangen kann. Andrea Gunschera gelingt es jedoch, die Spannung vor allem im ersten Drittel hoch zu halten, sodass man gar nicht zu stark ins Grübeln über die Welten kommt. Währenddessen wird alles schrittweise erklärt, sodass man in der Mitte des Romans eine gute Vorstellung von den tausenden Realitäten hat. Insbesondere die orientalisch anmutende Welt Níval lässt wundervolle Bilder im Kopf des Lesers entstehen und macht „Purpurdämmern“ zu einem farbenprächtigen Kopfkino. Insgesamt ist der Roman recht actiongeladen, wobei sich in der zweiten Hälfte kleine Längen eingeschlichen haben. Die facettenreichen Welten und die verschiedenen Handlungsfäden erfordern Erklärungen, die man bis zum Schluss auch erhält. Dennoch bleibt vieles offen und „Purpurdämmern“ schreit geradezu nach einer Fortsetzung.

Der Einband ist etwas dünner als bei üblichen Hardcovern, dafür aber mit Leinen überzogen, was sich einfach toll anfühlt. Das Covermotiv passt wunderbar zum Roman und dürfte vor allem junge Leser anziehen. Doch auch Erwachsene können bedenkenlos zu „Purpurdämmern“ greifen, denn der Roman ist für Leser verschiedener Altersgruppen interessant. Die Geschichte ist so kreativ und facettenreich, dass man gar nicht alle Pluspunkte aufzählen kann, ohne den Rahmen zu sprengen. Bei so viel Einfallsreichtum sieht man auch über die kleinen Längen und trotziges Teenagerbenehmen hinweg.


Fazit

„Purpurdämmern“ hat alles, was moderne Fantasy braucht: einen komplexen Weltentwurf voll origineller Ideen, authentische Charaktere, düstere Geheimnisse und magische Kreaturen, die für reichlich Action sorgen. Kreativ, farbenfroh und mit einer Prise schwarzem Humor überzeugt Andrea Gunschera trotz kleiner Schwächen und lässt sehnsüchtig auf eine Fortsetzung hoffen.


Pro & Contra

+ komplexer, kreativer Weltentwurf
+ sympathische jugendliche Protagonisten
+ Santinos düsterer Kriegercharme
+ actiongeladen und humorvoll
+ orientalisch-buntes Níval
+ wunderschöne Gestaltung

o als Einzelroman lesbar, schreit jedoch nach einer Fortsetzung

- kleine Längen im Mittelteil
- Marielle ist manchmal zu trotzig

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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