Sieben Verlag (März 2013)
Taschenbuch, 225 Seiten, 14,90 EUR, eBook: 8,99 EUR
Covergestaltung: Andrea Gunschera
ISBN: 978-3864431326
Genre: Phantastik / Historik
Klappentext
Die neunzehnjährige Léonide Géroux wächst im Arles/Südfrankreich des 19. Jahrhunderts im Haus ihrer Eltern auf. Als ihr Bruder, der Maler Willem Géroux, in der Hitze des mediterranen Sommers dem Fieberwahn verfällt, beschließt sie, den renommierten, aber ebenso gefürchteten italienischen Mediziner und Alchimisten Costantini um Hilfe zu bitten. Nach und nach beginnen Wahn und Wirklichkeit zu verschwimmen. Wer ist Costantini und welche Rolle spielt er in Willems Leben? Als Léonide sich auf die Suche nach Antworten macht, begegnet sie nicht nur der Liebe, sondern auch dem Tod.
Rezension
Léonide hat eine ganz besondere Bindung zu ihrem Bruder Willem, den sie stets als sanften und sensiblen Menschen erlebt und seine Malerei bewundert hat. Doch Willem wurde krank, trank im Fieberwahn Terpentin und aß seine Farben, versuchte mehrmals, sich das Leben zu nehmen. Manchmal liegt er ganz ruhig, phantasiert und verliert sich in grausigen Träumen. Dann wird er plötzlich aggressiv, wirft sich gegen die verschlossene Tür und sticht sich sogar ein Auge aus. In ihrer Verzweiflung wendet sich Léonide an den Alchemisten Costantini, der ihr eine selbst gebraute Arznei überlässt. Léonide ahnt nicht, auf wen sie sich da eingelassen hat. Als Willem trotzdem stirbt, gibt Léonide Costantini die Schuld und macht sich auf die Suche nach Antworten, die sie selbst in den Wahnsinn treiben könnten …
Das Cover in feurigem Rot und Weiß spiegelt die fiebrige Atmosphäre des Romans vortrefflich wieder. Die Sonne in Südfrankreich brennt unbarmherzig auf die Charaktere nieder und selbst im Herbst spürt Léonide noch das Brennen auf ihrer Haut. Eine Hitze, die auch Willem gespürt hat und deren Glut eine Konstante in den alptraumhaften Entwicklungen ist. Léonide sieht in Willems Tod eine Verbindung zu Costantini, der bei jeder Begegnung jünger zu werden scheint. Gerüchte um bizarre Experimente stacheln zusätzlich die Phantasie des Lesers an, der nie genau weiß, ob Léonide einem finsteren Wesen oder ihren eigenen Dämonen zum Opfer fällt.
Léonide ist behütet aufgewachsen, sehnt sich jedoch schmerzlich nach Unabhängigkeit. Sie will sich ihr Leben nicht vorschreiben lassen, schon gar nicht von Männern. In diesem Punkt ist sie stark und auch dickköpfig. Doch sie ist ebenso wie ihr Bruder Willem anfällig für wahnhafte Träume und das Übernatürliche, obwohl sie nicht an die Hölle und andere religiöse Motive glaubt. Und so weiß man lange Zeit nicht recht, ob all diese seltsamen Zufälle und diese unwirkliche Hitze nicht nur einem vor Trauer verrückt gewordenen Geist entspringen. Léonide zur Seite steht Frédéric. Er ist Arzt und hat Willem behandelt, wobei er Léonide näher gekommen ist. Er will ihr glauben, dass mit Costantini etwas nicht stimmt, dass sie sich nicht alles nur einbildet. Doch als Arzt hält er sich an Fakten und sieht in den scheinbar übernatürlichen Erscheinungen immer deutlicher Anzeichen für Wahnvorstellungen. Die Charaktere handeln im Kontext des historischen Settings authentisch, doch aus heutiger Sicht sind nicht alle Reaktionen nachvollziehbar.
Der Roman wird aus Sicht Léonides im Präsens erzählt, wobei es einige traumhafte Einschübe aus der Sicht ihres Bruders und Costantinis, sowie Tagebucheinträge gibt. Diese sind allesamt wahnhaft und merkwürdig und lassen offen, ob Léonide krank vor Trauer oder die surreale Bedrohung wirklich ist. Man tendiert dazu, anzunehmen, dass Costantini tatsächlich ein übernatürliches, finsteres Wesen ist – doch ganz sicher kann man sich nie sein. Charlotte Schaefer gelingt es ausgesprochen gut, eine magische Atmosphäre zu schaffen und diese gleichzeitig in Frage zu stellen. Sehr schön lesen sich zudem die Zitate von Vincent van Gogh, dessen Leben Inspiration für Léonides Bruder Willem war. Bis zum Schluss hält Charlotte Schaefer Überraschungen parat, wobei man in der ersten Hälfte einige Entwicklungen vorhersehen kann. Auch haben sich kleine Längen im Mittelteil eingeschlichen, die angesichts der dichten Atmosphäre jedoch kaum ins Gewicht fallen.
Zwischen dem Erscheinen von „Cedars Hollow“ und „Léonide“ liegen vier Jahre, die man deutlich spürt. Thematisch und stilistisch gibt sich „Léonide“ erwachsener und sicherer ohne den Charme einzubüßen, der „Cedars Hollow“ ausgemacht hat. Insbesondere die Landschaftsbeschreibungen, sowohl reale als auch traumhafte, sind gelungen. Der Text spiegelt dabei Léonides geistige Verfassung, ist gefühlvoll und teilweise wahnhaft verfasst, jedoch niemals unverständlich. Man erlebt die grauenhaften Visionen hautnah mit und oft verpasst man den Übergang zwischen Realität und Wahn, so wie Léonide selbst nicht merkt, wann sie den Boden unter den Füßen verliert.
Fazit
„Léonide“ liest sich wie ein düsterer Fiebertraum, voll gleißender Hitze und dunkler Phantasien. Charlotte Schaefer spielt mit Wahn und Wirklichkeit und lässt Léonide gegen äußere und innere Dämonen kämpfen. Ein phantastischer Roman in historischem Gewand, emotional mitreißend und herrlich atmosphärisch!
Pro & Contra
+ traumhafte, fiebrige Atmosphäre
+ innige Bindung zwischen den Geschwistern
+ gelungener Drahtseilakt zwischen Wahn und Wirklichkeit
+ südfranzösischer, historischer Charme
- kleine Längen im Mittelteil
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5
Interview mit Charlotte Schaefer zu "Léonide"