Weiter weg (Jonathan Franzen)

Rowohlt, 1. Auflage 2013
Originaltitel: Farther Away (2012)
Übersetzt von Bettina Abarbanell,
Wieland Freund, Dirk van Gunsteren und Eike Schönfeld
Gebunden, 364 Seiten
€ 19,95 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50
ISBN: 978-3-498-02132-0

LESEPROBE

Genre: Sachbuch (Essays)


Inhalt

Schmerz bringt dich nicht um (Pain Won’t Kill You, 2011)
Weiter weg (Farther Away, 2011)
Die tollste Familie, von der je erzählt wurde (The Greatest Family Ever Storied, 2010)
Hornissen (Hornets, 2010)
Der leergefegte Himmel (The Ugly Mediterranean, 2010)
Der Kornkönig (The Corn King, 2010)
Über autobiographische Literatur (On Autobiographical Fiction, 2009)
«I just called to say I love you» (I Just Called To Say I Love You, 2008)
David Foster Wallace (David Foster Wallace, 2008)
Der chinesische Papageitaucher (The Chinese Puffin, 2008)
Über Endstation für neun (On The Laughing Policeman, 2008)
Comma-then (Comma-Then, 2008)
Authentisch, aber schauerlich (Authentic But Horrible, 2007)
Interview mit New York (State) (Interview With New York State, 2007)
Liebesbriefe (Love Letters, 2005)
Unser kleiner Planet (Our Little Planet, 2005)
Das Ende des Rausches (The End Of The Binge, 2005)
Wie können Sie so sicher sein, dass nicht Sie selbst das Böse sind? (What Makes You So Sure You’re Not The Evil One Yourself?, 2004)
Unsere Beziehungen: eine kurze Geschichte (Our Relations: A Brief History, 2004)
Der Mann im grauen Flanell (The Man In The Gray Flannel Suit, 2002)
Kein Ende in Sicht (No End To It, 1998)


Rezension

Jonathan Franzen wird zumeist in Verbindung gebracht mit seinen zwei großen Romanen „Die Korrekturen“ und „Freiheit“, weniger mit seinen Essays. Im Januar 2013 ist die deutsche Übersetzung seiner letzten Essaysammlung „Farther Away“ erschienen. Unter dem Titel „Weiter weg“ sind 21 Texte, geschrieben und erstveröffentlicht zwischen 1998 und 2011, im Umfang von 4 bis 52 Seiten vereint und zeitlich abfallend angeordnet.

Die Texte weisen nur vordergründig einen geringen Zusammenhang auf, sind es doch unter anderen: eine Abschlussrede vor College-Absolventen, Reisereportagen, Beiträge über Romane, ein Vortrag über autobiographische Literatur, Technologiekritik, ein fiktives Interview mit dem Staat New York und ein Aufsatz über schlechtes Schreiben. Franzen seziert zwischenmenschliche Beziehungen - eine Konstante, die seine Essays durchzieht, die alle bestimmt sind durch persönliche Erfahrungen. Er schreibt über die Entstehung von „Die Korrekturen“ und dessen inhaltliche Verbindungen zu seiner Biografie und seiner Familie, die Beschäftigung mit Romanen und Erzählungen (Christina Steads „Der Mann, der seine Kinder liebte“, Donald Antrims „The Hundred Brothers“, Maj Sjöwalls und Per Wahlöös „Endstation für Neun“, Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, James Purdys „Die Preisgabe“, Fjodor M. Dostojewskis „Der Spieler“, Sloan Wilsons „Der Mann im grauen Flanell“, Paula Fox’ „Was am Ende bleibt“, Alice Munros „Tricks“). Drei Texte, „Schmerz bringt dich nicht um“, „Weiter weg“ und „Über autobiographische Literatur“ geben Aufschluss über Franzens Perspektive auf die Bedeutung von Literatur in der heutigen Zeit und sind als Komplementärstücke zu seinen Gedanken über bestimmte literarische Werke lesbar. Allein durch ihre Anzahl bilden diese Beiträge das Hauptstück der Sammlung.

Franzens Liebe zu Vögeln ist ein weiteres wiederkehrendes Motiv. Im ersten Essay, „Schmerz bringt dich nicht um“, schreibt er, wie sie seine Beziehung zur Welt verändert hat. Im Essay „Weiter weg“ ist Franzens Anlass für einen Besuch auf der südpazifischen Vulkaninsel Más Afuera das Bedürfnis nach Isolation in Folge einer aufreibenden viermonatigen Lesereise. Er will dort seltene Vögel beobachten und Defoes „Robinson Crusoe“ lesen, dessen wahrscheinliches historisches Vorbild Alexander Selkirk lange Jahre der Einsamkeit auf der Insel verbrachte. In „Der leergefegte Himmel“ schreibt er über Vogelmord im Raum der Europäischen Union und über Menschen, die auf der Ebene der individuellen wie regionalen Identitätsbestimmung Kategorien („Tradition“ ist die am häufigsten bemühte) missbrauchen, um Triebhandlungen zu begründen und gleichzeitig zu überhöhen. Diese Ebene wird für ihn zum Ausgangspunkt von Gedanken über (moralische) Korruption im gesellschaftlichen Kontext, besonders der internationalen Politik. Die persönliche Perspektive ist für ihn die Leitlinie, er ist nicht interessiert an Fragen, die einen Zusammenhang beispielsweise von Erweiterung und Vertiefung europäischer Integration mit (separatistischen) Regionalisierungsbemühungen herstellen.

Manchen Lesern mögen Franzens Einlassungen zu heutigen Kommunikationstechnologien überzogen erscheinen, seine Kritik an Menschen, die öffentlich ihre Liebe zu einem anderen Menschen bekunden („I Just Called To Say I Love You“). Als wäre er ein Nachkomme von Walter Matthau und Jack Lemmon aus dem Film „Ein verrücktes Paar“ (Grumpy Old Men), unternimmt er einen Minifeldzug gegen die Banalität, die weitgehend den Umgang mit Smartphones bestimmt, die damit einhergehende Verschmelzung aus privater und öffentlicher Sphäre, bis er diese Gedanken überführt in Erinnerungen an seine Eltern. In mehreren Texten äußert Franzen eine moralische Haltung, die er aus persönlichen Krisen entwickelt hat. Diese Haltung mag befremden, ihre Vermittlung hat jedoch etwas Sympathisches. Die Verbindung aus Moralität und Zärtlichkeit ist heute eher selten und lässt gerne über gelegentlich aufscheinende Eitelkeiten Franzens hinwegsehen. Eitelkeiten, die er selbst anspricht.


Fazit

Mag sein, dass man Franzen, den Schriftsteller, mögen muss, um mit “Weiter weg” etwas anfangen zu wollen. Gewillt sein, über die Texte nachzudenken, sollte man aber wenigstens. Sie sind keine Unterhaltung zum Füllen von Leere, sondern persönliche Einlassungen Franzens, teils solipsistisch, teils provokativ. Gelegentlich münden sie in die Selbstentblößung. Sie legen den Gedanken nahe, er sei ein Mensch, der mit der Welt genauso beschäftigt ist, wie mit sich selbst. Und dass Franzens Leben aus Themen besteht, über die er improvisiert.


Pro & Contra

+ Essays eröffnen einen anderen Zugang zu seinen Romanen
+ persönliche Texte zeigen Franzen als humorvollen, sensiblen, zärtlichen, (selbst-)kritischen und politischen Menschen

Wertung:  

Inhalt/Themen: 5/5
Leseertrag: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


Dies ist eine Gastrezension von Almut Oetjen, herzlichen Dank!

Rezension zu "Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?"