Herr der Krähen (Ngũgĩ wa Thiong’o)

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A1 Verlag GmbH, 4. Auflage 2011
Originaltitel: Wizard of the Crow (2006)
Übersetzt von Thomas Brückner
Gebunden, 944 Seiten
€ 29,90 [D] | € 23,80 [A] | CHF 41,90
ISBN: 978-3-940666-17-8
 
Genre: Belletristik

Inhalt
 
Die Freie Republik Aburĩria ist ein afrikanisches Land in der postkolonialen Zeit, beherrscht von einem alternden Diktator. Der Herrscher will sich nicht nur durch seine Handlungen, sondern auch durch ein Denkmal weltweite Anerkennung verschaffen und der Nachwelt einschreiben. Zu diesem Zweck will er das Projekt "Marching to Heaven" durchführen, einen heutigen Turmbau zu Babel, der das misslungene ursprüngliche, aus dem alten Testament bekannte Vorhaben übertreffen soll. Da das Land bereits wirtschaftlich ausgeblutet ist, benötigt er Investoren aus dem Westen. Die New Yorker Global Bank soll ihm das viele Geld geben, muss aber zuvor von der Notwendigkeit des Projekts überzeugt werden.

Während der Herrscher und sein Außenminister Markus Machokali in die USA reisen und sich um den Bankkredit bemühen, wird der hochqualifizierte Arbeitslose Kamĩtĩ auf seiner Flucht vor Constable Arigaigai Gathere zum Herrn der Krähen. Als selbsternannter Zauberer hält er sich suggestiv seinen Verfolger vom Hals, der anschließend wie ein Missionar durch Aburĩria zieht und Zeugnis ablegt von seiner magischen Begegnung. Kamĩtĩ wird als Heiler und Wahrsager zur Berühmtheit und Anlaufstelle vieler Hilfe Suchender. In New York befällt den Herrscher eine seltsame Krankheit. Der Herr der Krähen soll ihm helfen.

Der Bauunternehmer Titus Tajirika, Vorsitzender des Bauprojekts, wird ebenfalls heimgesucht: von zwei riesigen Warteschlangen. Die eine Menschenschlange überhäuft ihn mit Bestechungsgeldern, um an "Marching to Heaven" mitzuverdienen, die andere besteht aus den Arbeitssuchenden Aburĩrias.

Rezension

Der Herrscher, genannt: "Seine Allmächtige Vortrefflichkeit", eine Kombination aus der Geschichte bekannter blutrünstiger afrikanischer Tyrannen, sucht die Nähe möglicher Partner aus dem Westen und bietet sich als Kraft im Kampf gegen den internationalen Terrorismus an. Allein die Existenz des Geheimdienstes M5 bewirkt eine Atmosphäre von Paranoia. Die ökonomischen Verhältnisse sind bestimmt durch krasse Gegensätze, Luxus und Armut, teure Autos und Villen, Slums und Eselskarren. Die Masse der unterdrückten Armen befindet sich in ständiger Suche nach Nahrung und Arbeit. Der Diktator ist besessen von seinem öffentlichen Bild. Er versucht seine Wahrnehmung durch westliche potenzielle Geldgeber ebenso zu steuern, wie er durch ständige Fernsehpräsenz der Bevölkerung Aburĩrias sein Selbstbild einimpfen will. Erzählmomente wie diese verankern den Roman in der Realität. Der Realismus wird aufgebrochen durch Elemente der Satire, des Absurden und Magischen. Herr der Krähen ist angefüllt mit biblischen Anspielungen, Metaphern und Bildern. Absurde Szenen illustrieren, welche Kräfte wirken, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, damit sich Regierungen noch die unsinnigsten Politiken leisten können.

Die Regierung Aburĩrias ist korrupt und gierig. Der Herrscher, wird vergöttert und ist umgeben von unterwürfigen Chargen, die sich im Westen haben plastischen chirurgischen Eingriffen unterziehen lassen. Die Augen des Außenministers Markus Machokali haben die Größe von Glühbirnen, die Ohren von Silver Sikiokuu, Minister im Büro des Herrschers und Leiter des Geheimdienstes M5, sind länger als die von Kaninchen, Informationsminister Big Ben Mambo hat sich die Zunge verlängern lassen. Derart optimiert, hoffen sie ihrem Herrn besser dienen und Gegner besser kontrollieren zu können. Der Tyrann ist zwar ein mächtiger Mann, der nach Gutdünken ganze Dörfer nebst Bewohnern auslöschen lassen und den Kalender der Nation ändern kann. Aber auch über ihm schwebt das Schwert, das seine Position gefährden kann.

Kamĩtĩ und seine Freundin Nyawĩra werden die Gegenspieler des Diktators. Die lange vergebliche Arbeitssuche trotz seiner hervorragenden Ausbildung hat Kamĩtĩ desillusioniert. Seine Karriere als widerstrebender Nationalheld beginnt mit dem Spaß, der ihm den Polizisten vom Hals halten soll. Die zufällige Begegnung Kamĩtĩs mit Nyawĩra führt erst dazu, dass er zum mythischen Herrn der Krähen wird. Kamĩtĩs Großvater kämpfte bereits gegen die britischen Kolonialisten. Nyawĩra wird zum Sprachrohr der Widerstandsbewegung, zur Staatsfeindin Nr. 1 und zur treibenden Kraft in der Beziehung mit Kamĩtĩ. Kamĩtĩ stellt fest, die Welt habe keine Seele, worauf Nyawĩra ihn auffordert, die Welt zu verändern, ihr eine Seele zu verschaffen. Ihre Liebesgeschichte ist eins der kraftvollsten Momente des Romans.

Herr der Krähen ist eine politische Allegorie, in der sich das unterdrückte Volk nicht primär über die ökonomischen Verhältnisse, Selbstbestimmung oder Gerechtigkeit definiert, sondern darüber, dass die Herrschenden ihm eine Stimme verweigern. Sprache ist Teil der Kultur, Menschen konstruieren ihr Bild von der Welt mittels Sprache, sie ist von grundlegender Bedeutung für die Identität. Deshalb fordern Demonstranten auch ihre Stimme zurück, der Widerstand nennt sich "Bewegung für die Stimme des Volkes". Sprache als fundamentale Kraft durchzieht den Roman: Ein Sklave verliere zuerst seinen Namen, dann seine Sprache, sagt der Herr der Krähen einmal, als er den gierigen und sich dem Herrscher unterwerfenden Titus Tajirika behandelt, der unter einer mysteriösen Krankheit leidet, die es ihm nur noch erlaubt, ein paar Ausdrücke eher zu bellen denn zu sprechen. Kamĩtĩ nennt sie Wortkrankheit: Die Gedanken bleiben im Menschen stecken.

Fazit

Ngũgĩ wa Thiong’o legt die globalen und regionalen Rahmenbedingungen offen, die die Existenz und den Machterhalt von Diktatoren ermöglichen. Keine leichtfüßige Lektüre, trotz vieler absurder und komischer Einfälle, ist der Roman für eine politische Satire doch sehr düster gehalten. Obwohl es eine Auflösung gibt, ist das Ende bestimmt durch Ambiguität, endlose Schlangen und unbefriedigte Bedürfnisse. Herr der Krähen ist getragen vom Vertrauen darauf, dass die Menschen sich der Macht widersetzen und ihre Stimme zurückfordern. Von beeindruckender Klarheit, bietet der Roman eine gelungene Simulation der afrikanischen oralen Erzähltradition im gedruckten Text.

Pro & Contra

+ Ngũgĩ liefert ein Bild Afrikas im zwanzigsten Jahrhundert und seiner Einbindung in zweitausend Jahre Welt- und Kulturgeschichte
+ Trotz seiner Länge ein Roman ohne nennenswerte Längen
+ gerade die letzten zweieinhalb Jahre in Nordafrika zeigen, dass der Roman von grundsätzlicher Aktualität ist
 
Wertung:sterne5
 
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Leseertrag: 5/5
Preis/Leistung: 5/5