Die rote Lilie (Anatole France)

france lilie
 
Manesse Verlag (März 2003)
Originaltitel: Le lys rouge (1894)
Übersetzt von Caroline Vollmann
Nachwort von Albert Gier
Gebunden (Leinen), 512 Seiten
€ 22,90 [D] | € 23,60 [A] | € 32,90 [CH]
ISBN: 978-3-7175-2012-2

Genre: Belletristik


Inhalt

Seit mehr als sechs Jahren ist Thérèse mit dem reichen Erben und Parlamentsabgeordneten Graf Martin-Bellème verheiratet, der seinen Adelstitel dem ersten Napoleon verdankt. Der einzige Mann, den sie je geliebt hat, ist ihr Vater, Monsieur Montessuy, dessen Ehrgeiz sie seit ihrer Kindheit bewundert. Sie ist temperamentvoll und hat Ambitionen, die jedoch unerfüllt bleiben, was sie verzweifeln und an Selbstmord denken lässt. Als sie zu einer jungen Frau heranwächst, ist sie sicher, dass es keinen zweiten Mann wie ihren Vater gibt. Ihr ist gleichgültig, wen sie heiratet. Widerstandslos ergibt sie sich daher in die von ihrem Vater gestiftete Ehe mit dem Grafen, einem Mann von kalter Höflichkeit. Sie langweilt sich, und schon nach kurzer Zeit treffen ihr Mann und sie ein Arrangement, die Ehe nur noch auf dem Papier zu führen. Drei Jahre später begegnet sie Robert Le Ménil und geht ohne zu Zögern eine Affäre mit ihm ein. Seit drei Jahren treffen sie sich nun zwei- oder dreimal die Woche in einer kleinen Wohnung in der Rue Spontini. Ihre vermeintliche Liebe ist jedoch nur eine tiefe Zuneigung und im Stillen langweilt sie sich mit dem konventionellen und ein wenig schlichten Le Ménil.

Als der Bildhauer Jacques Dechartre Thérèse in Florenz seine Liebe gesteht, entwickelt sich zwischen ihnen eine leidenschaftliche Beziehung. Diese wird überschattet durch Thérèses früheren Geliebten und die maßlose Eifersucht Dechartres.


Rezension

Vor dem Hintergrund der politisch instabilen Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg entfaltet Anatole France in seinem Schlüsselroman Die rote Lilie ein zeitgenössisches Porträt der feinen Pariser Gesellschaft, die sich im Salon der Gräfin Martin-Bellème trifft. Man vertreibt sich die Zeit mit Gesprächen über Literatur, Wissenschaft und Kunst, mit Klatsch über die neuesten Affären und Skandale, mit Anekdoten über Skurrilitäten. Daneben wird Politik gemacht. France, der 1921 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, war ein scharfsichtiger Chronist des Fin de siècle. Mit kritisch-distanziertem Blick entlarvt er fundamentale menschliche Schwächen. So ist General Larivière, der am Ende Kriegsminister wird, der Prototyp des Karrieristen, Schmoll verkörpert den egozentrischen und eitlen Gelehrten, Senator Loyen den korrupten Politiker. Graf Martin wirft später, als er dank der Protektion durch den Schwiegervater Finanzminister wird, seine finanzpolitischen Überzeugungen über Bord und begründet dies damit, dass er jetzt Rücksichten nehmen müsse. Die politische Kaste erweist sich einmal mehr als korrupt und opportunistisch, nur an den eigenen karrieristischen Vorteilen interessiert. Für den illusionslosen Beobachter und radikalen Skeptiker France ist die Tugend nur Tarnung für Heuchelei oder Selbsttäuschung, und hinter der angeblichen Selbstlosigkeit verbergen sich egoistische Motive.

Die Idee zu Die rote Lilie stammte von Léontine Arman de Caivallet (1844-1910), der verheirateten Geliebten von France. Sie war ehrgeizig und wollte, dass France eine Karriere machte und in die Académie Française aufgenommen wurde. Dies war allerdings nicht möglich mit seinen üblichen Schriften, die zu kritisch waren und nur eine geringe Auflagenhöhe erreichten. Sie schlug ihm vor, einen roman mondains über eine Liebesintrige nach der Manier der Bestsellerromane von Émile Zola zu schreiben. Als Vorbild sollte er den dramatischen Beginn ihrer eigenen Liaison nehmen, ein selbst für damalige Romanciers veritables Eifersuchtsdrama. Dafür stellte sie ihm sogar seine Liebesbriefe an sie zur Verfügung. Die Briefe wurden 1984 publiziert. Ein Vergleich zeigt, dass France zahlreiche Details und Formulierungen in den Roman übernommen hat. Die Liaison von France und Madame de Caillavet hielt bis zu deren Tod im Jahr 1910, anders als die von Dechartre und Thérèse. Dechartres Verhalten ist schwer nachzuvollziehen, auch Frances Zeitgenossen hatten damit Probleme. Als die Affäre beginnt, hat sich Thérèse bereits von Le Ménil getrennt. Sie verheimlicht ihm die Affäre und lügt, aber nur um ihn zu schonen, denn sie weiß um seine maßlose Eifersucht. Am Ende aber offenbart sie ihm die ganze Wahrheit und es gibt keinen Grund für ihn, ihr nicht zu glauben. Außerstande, die Wahrhaftigkeit ihrer Liebe zu erkennen, trennt er sich von ihr, obwohl er sie liebt und sich damit selbst schadet. Seine Eifersucht auf Le Ménil ist jedoch nicht unmotiviert.

Viele Hinweise deuten auf den unglücklichen Ausgang der Liebesgeschichte. Dechartre nennt seine Liebe ein tödliches Begehren. Als Dechartre Thérèse bedrängt, sich ihm hinzugeben, begegnet ihnen ein Leichenzug. Vom Fenster des Pavillons aus blickt man auf den englischen Friedhof. Auch eine andere Liebesgeschichte im Roman, die bereits Vergangenheit ist, ist die Hölle auf Erden: Madame Marmet gesteht Thérèse, dass ihr verstorbener Mann sie zwar sehr geliebt habe, dass er deshalb aber auch eifersüchtig war und ihr bis zu seinem Tod mit seinen Verdächtigungen das Leben schwer gemacht habe. Bevor France den Titel Le lys rouge wählte, die rote Lilie, die das Stadtwappen von Florenz schmückt und Sinnbild der heimlichen Liebe von Thérèse und Dechartre ist, sollte der Roman "La terre des morts" heißen.

Die wahre Geschichte verlief anders. Madame de Caillavet wurde von ihrem Zweitliebhaber nach einem Jahr verlassen. Aber ihre Liaison mit France hielt unter Duldung ihres Gatten und der Gesellschaft bis zu ihrem Tod. 1896, zwei Jahre nach der Veröffentlichung, wurde France in die Académie Française gewählt.


Fazit

Die rote Lilie ist ein wichtiger Beitrag zum roman mondains, eine komplexe und unterhaltsame Gesellschaftssatire.


Pro & Contra

+ stilistisch ansprechende Ehebruchsgeschichte
+ elegant erzählt
+ zumindest in der deutschen Übersetzung staubfreier Klassiker
 
Wertung:sterne4
 
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5