Erinnerung an meine traurigen Huren (Gabriel García Márquez)

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Fischer Taschenbuch, 2006
Originaltitel: Memoria de mis putas tristes (2004)
Übersetzt von Dagmar Ploetz
Taschenbuch, 160 Seiten
€ 8,95 [D] | € 9,20 [A] | CHF 13,50
ISBN: 978-3-596-17259-7
 
Genre: Belletristik


Kurzbeschreibung

Zu seinem neunzigsten Geburtstag schenkt sich ein alter Mann, der sein Leben lang nur käufliche Liebe gekannt hat, in einem Bordell eine Nacht mit einer Jungfrau. In dieser Nacht, der noch viele folgen sollten, betrachtet er verzaubert die schlafende Schöne und empfindet zum ersten Mal in seinem Leben Liebe. Ein Roman voller Melancholie und Humor, voller Klugheit und Zärtlichkeit. Der alte Mann und das Mädchen, ein Thema der Weltliteratur, wird von García Márquez auf meisterhafte Weise karibisch variiert.


Rezension

Gabriel García Márquez verwebt in Erinnerung an meine traurigen Huren Realismus und Fantasie, Tatsachen und Träume kunstvoll miteinander. Der Erzähler verliert die Trennschärfe zwischen der Wirklichkeit und seiner Fantasie. Diesen Realismo Magico oder magischer Realismus genannten Stil prägte Márquez selbst maßgeblich durch seinen Klassiker 100 Jahre Einsamkeit mit, der ihm 1967 den internationalen Durchbruch und 1982 den Literaturnobelpreis brachte.

Erinnerung an meine traurigen Huren behandelt das literarische Thema „Der alte Mann und das Mädchen“. Inspiriert wurde Márquez vom Spätwerk Die schlafenden Schönen des japanischen Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata. Dessen Protagonist Herr Eguchi, ein älterer Herr, ist Stammkunde des „Hauses der schlafenden Schönen“. Doch entgegen der oft aus westlicher Sicht vertretenen Behauptung sucht Herr Eguchi die Jungfrauen nicht auf, um verlorene Genüsse zu erleben, sondern um sich träumend an der Seite schlafender Schönheiten auf den Tod vorzubereiten. Márquez variiert die fernöstliche Lebensphilosophie des Zen-Buddhismus, indem er gleichsam die karibische Variation zu Kawabatas Klassiker liefert. Auch bei ihm geht der alte Herr zu einer Jungfrau, aber dieser plant im Gegenteil zu Eguchi eine „liebestolle Nacht“. Sein Ich-Erzähler findet durch die Besuche „das wirkliche Leben“, und der nahe geglaubte Tod rückt in weite Ferne. Marquez' Mädchen ist eine ins Extrem entwickelte Abstraktion: sie schläft, ist also nicht bei Bewusstsein, ihre Jugend ist nicht konnotiert mit sexueller Vitalität.

Márquez greift auf weitere Klassiker der Weltliteratur zurück, wie die Sonette des spanischen Dichters Gerardo Diego und Francisco Delicados Die schöne Andalusierin. Das 1528 in Venedig erschienene romanhafte Stück erzählt in 125 Episoden über Leben und Gewerbe von Prostituierten und Kupplerinnen im Austausch zwischen italienischer und spanischer Kultur des 16. Jahrhunderts. Der Liebesgeschichte gibt Márquez, der sich gegen Korruption und Drogenkriminalität engagiert und in seiner Heimat Kolumbien als moralische Instanz gilt, einen politischen und gesellschaftlichen Ort. Der Erzähler erinnert an den Krieg der tausend Tage zwischen Konservativen und Liberalen, der mit dem Friedensabkommen von Neerlandia endete. Für Márquez war es ein wichtiges Ereignis, weil danach die Stadt mit Prostituierten überschwemmt wurde. Heute sind die politischen Verhältnisse höchst instabil. Die zum Grossteil in Armut lebende Bevölkerung wird terrorisiert von Armee, Guerillas, Militär, Paramilitärs und den Drogenkartellen.

Erinnerung an meine traurigen Huren wurde in Deutschland kritisch rezipiert. In der Tat provoziert schon der Eingangssatz: „In meinem neunzigsten Jahr wollte ich mir zum Geburtstag eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken“. Auch bezeichnet der Erzähler Prostituierte als „Gebrauchtware“. Doch diese Sprache spiegelt lediglich sein Denken vor der Begegnung mit dem Mädchen. Danach ändert sich seine Haltung und damit auch seine Sprache. Die Begegnung mit dem Mädchen führt dazu, dass er sein bisheriges Leben hinterfragt. Er realisiert, dass es eine Täuschung war, er sich selbst etwas vorgemacht hat. Diese Erkenntnis erreicht er allein, ohne Zutun des Mädchens - weshalb es auch stumm bleiben muss -, und somit ist die Wiedergeburt ganz allein Ergebnis seiner Mühen. Er verändert sich, seine Sicht auf sein Leben und die Frauen. Im alten Leben des Erzählers gibt es dem Stereotyp folgend zwei Arten von Frauen: die Mutter (Heilige) und alle übrigen Frauen (Huren). Im neuen Leben ist das Mädchen für ihn keine Hure, auch als sie vielleicht keine Jungfrau mehr ist. Seine Mutter stürzt vom Sockel der Heiligen, als er herausfindet, dass sie heimlich ihre Juwelen verkauft hat, um die Familie zu unterstützen. Seine alte Freundin, eine Hure, ist heute eine glückliche Ehefrau, die zu beneiden ist. Es wäre ein Schnellschuss, das Buch als triefende Altherrenphantasie zu bezeichnen. Der Narzissmus und das romantisierende Bestreben des Erzählers sind diesem in seiner Lächerlichkeit bewusst.


 Fazit

Gabriel García Márquez erzählt in Erinnerung an meine traurigen Huren vordergründig eine kurze und trivial anmutende Geschichte. Er benutzt sein Thema, um lateinamerikanische Geschlechterbilder umzukehren: der Erzähler war früher ein typischer Macho, schwach, feige und kleinlich, der aber durch die selbstlose Liebe neugeboren wird. Die Frauen sind keine Huren oder Heilige, sondern stark und pragmatisch. Eher ein Aquarell denn ein Gemälde, dennoch sehr kraftvoll. Bilder von Verfall und Fäulnis sind dieser kurzweiligen und gelungenen Reflexion unterlegt. Einer Reflexion über Melancholie und Alter, das Leben als Traum, das selbstbezogene Ich eines Mannes.


 Pro & Contra

+ sprachlich reizvoll
+ sinnliches Spiel mit Stereotypen
+ Wahrnehmungsgrenzen verschwimmen, Verhältnisse werden umgekehrt

- Beschreibung des Lebens im Bordell wirkt ein wenig klischiert

Wertung: alt

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5