Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Maggie Shipstead)

shipstead turbulenzen

dtv premium, Mai 2013
Originaltitel: Seating Arrangements (2012)
Übersetzt von Karen Nölle
Klappbroschur, 438 Seiten
€ 16,90 [D] | € 17,40 [A] | CHF 23,90
ISBN: 978-3-423-24967-6

Genre: Belletristik


Rezension

Winn Van Meter ist beruflich sehr erfolgreich, gesellschaftlich etabliert, kennt alle für ihn wichtigen Leute und ist Mitglied in fast allen wichtigen Clubs. Er verwendet viel Zeit auf die Gestaltung und Aufrechterhaltung seines Selbstbildes. Patriarch Winn, Ehefrau Biddy und Töchter Daphne und Livia kommen in ihrem Sommerhaus auf der neuenglischen Insel Waskeke zur Hochzeit von Daphne und Greyson Duff zusammen.

Die Handlung ist zeitlich begrenzt auf den Donnerstag bis Samstag des Wochenendes der Eheschließung Daphnes, die schnell heiraten will, bevor das Kind kommt. Die Geschichte folgt im Wesentlichen Winn und seiner jüngeren Tochter Livia, die eine Beziehung mit dem mehrfach untreuen Teddy Fenn, einem Freund der Familie, und eine Abtreibung hinter sich hat. Teddy hat sich von Livia in die Army und den Irak wegbewegt. Winn erklärt Livia, dass ihre Vorstellung von ewiger Liebe und das Leiden unter der Trennung vergehen und unrealistisch seien, weil die Männer der Gesellschaft irgendwann von ihren Vätern in Vernunftehen gepresst würden und bis dahin promisk seien. Winn stört, dass Livia Meeresbiologin werden will, statt eine Familie zu gründen und kleine van Meters, wenngleich unter anderem Nachnamen, in die Welt zu setzen. Livia liebt Wale, und sie liebt, oder glaubt zu lieben: Teddy, den wenig plüschigen Sohn der Nemesis ihres Vaters.

Biddy, Winns Ehefrau, gehört zu denen, die die Untreue ihres Mannes annehmen und damit leben können, solange der Ehebruch diskret erfolgt. Biddys Schwester Celeste ist eine Art Ehesportlerin, die schon so oft verheiratet war, dass sie sich selbst als Witzfigur genügt. Ein angehender Schwager Daphnes ist überzeugter Buddhist, kann aber gerade den Begriff fehlerfrei schreiben – seine Art, aus der Art zu schlagen.

Zu Beginn der Lektüre wirkt in dieser dialogbestimmten Erzählung alles übertrieben. Die Figuren sind Karikaturen, die Geschichte ist eine Farce. Das legt sich aber ein wenig, als Shipstead beginnt, unter die Oberfläche zu schauen. In leichtem und satirischem Ton beschreibt sie die Gegenwart ihrer Figuren, die schon durch ihre Namen kaum ernstzunehmen sind: Winn van Meter, Biddy, Dickie Sr. und Dickie Jr., Daphne, Mopsy, Oaksy. Wie so oft, haben alle Beteiligten ihr Päckchen zu tragen, aber wenn man daran denkt, dass es sich bei ihnen um sehr gut ausgebildete Gelegenheitsintelligente handelt, ist ihr Verhalten und ihr Niedergang zu konsequent durch Selbstsüchtigkeit und Dummheit motiviert. Aber das mögen andere Leser anders sehen. Die Drehbücher zu den Gilmore Girls oder zu Revenge, die teils im ersten Fall und vollständig im zweiten im Milieu von Shipsteads Roman verortet sind, weisen da einiges mehr an Tiefgang auf. Der Großteil des Personalbestandes ist nicht sehr sympathisch, langweilig und eitel. Die angenehmste Figur ist Brautjungfer Dominique, sie nimmt eine Außenperspektive ein und bleibt eine Randfigur.

Am schönsten im Roman ist der Motivkomplex, der um Winns Bestreben angelegt ist, Mitglied im exklusiven Pequod Club zu werden, was jedoch an seinem ewigen Konkurrenten Jack Fenn scheitert. Winn steht kurz vor seinem 60. Geburtstag und kämpft noch immer gegen seine Nemesis aus Studienzeiten an. Jack ist sein böser weißer Wal aus dem Geldadel, hält, anders als bei Melville, das Walfangschiff Pequod besetzt und verhindert, dass Kapitän Ahab, Winn, an Bord kommen kann. Am Urinal treffen beide gegen Ende des Romans aufeinander, und Moby Dick macht Ahab klar, warum er nicht an Bord der Pequod kommen darf, warum er in der Jagd nach ihm schon immer von einem Irrtum ausgegangen ist. Winn, der sich bei einem Unfall mit einem Caddie aus dem Pequod-Club das – zumindest symbolische – Holzbein geholt hat, harpuniert Jack zweimal mit dem Zeigefinger, erfolglos – der schlägt nicht einmal zurück. Die ganze Handlungszeit über liegt ein toter Pottwal am Strand und verrottet.

Es geht viel um Anziehung und Ablehnung, das Bedürfnis zu einem Kreis zu gehören, den man ablehnt, etwas zu sein, was man vielleicht nicht will, was jedoch von Vorteil ist. Bilder hierfür gibt es hinreichend, die Tanzbewegungen, die daran angelehnten Wechsel der Perspektiven. Schließlich verweist auch der Romantitel im Original: Seating Arrangements auf dieses Polarisierungsmotiv. Anders als der einfallsreiche und funktionierende deutsche Titel vermuten lassen könnte, handelt es sich nicht um ein Physiklehrbuch.

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit ist ein Roman über nicht gelebte Leben, das in der Verfassung nicht verankerte Streben nach Aufmerksamkeit und fortwährende Frustrationen, der seine Spannung aus dem Widerspruch zieht, den die gelackte Oberfläche (wie: Pflege von Sozialkontakten bei einem teuren Gläschen) und das dazu nicht passen wollende Innenleben der Figuren (wie: Feindschaften und sexuelle Spannungen) erzeugen.


Fazit

Trotz ihres deutschen Titels ist Maggie Shipsteads Gesellschaftssatire eher eine typische Frauenlektüre. Ein über die Sitzordnung des Originaltitels hinaus gut arrangierter Roman, der seine besten Momente in der Vater-Tochter-Beziehung offenbart.


Pro und Contra

+ Debüt mit Esprit und Humor
+ formal gut durchkomponiert

- teils penetrante und sich in leichter Variation wiederholende Diskussionen

Wertung: sterne3.5

Handlung: 3,5/5

Charaktere: 3,5/5

Lesespaß: 3,5/5

Preis/Leistung: 3,5/5