Tiefgründig...

(Autor: Maarten)

@Maria: Deine Sicht ist natürlich für Dich richtig und damit ist das Buch aus Deiner Sicht schlecht. Du meinst aber Deine Sicht auf dieses Buch objektivieren zu können. Gleichzeitig zeigt Deine Rezension und auch Deine jetzige Reaktion aber, dass alles was Hyperdrive ausmacht, nicht zu Dir durchgedrungen ist.

Ob man die Sprache als gelungen oder nicht empfindet, ist im Fall von Hyperdrive Geschmackssache. Ja, Odenthal hat eine eigenständige Stimme, schreibt weitab von der üblichen Sprache, die in möglichst knappen, flüssigen Sätzen die Handlung vorantreibt. Das muss man nicht mögen. Mir gefällt das besonders. Das ist wie bei Tom Robbins: Man liebt ihn oder man hasst ihn, dazwischen gibt es wenig.

Was die Tiefgründigkeit angeht: Nimm z.B. Lem, den ich großartig finde. Lem kann wie kein anderer philosophische Thesen und logische Parodoxien in Geschichten erlebbar machen. Bei ihm findet die Verarbeitung direkt im Vordergrund statt, er schreibt nicht literarisch/metaphorisch wie Odenthal.

Spricht man von tiefgründiger Literatur, dann ist Lem im Vergleich zu Odenthal etwa eine Pfütze im Vergleich zu einem See. Was ich weder als Abwertung von Lem noch als Aufwertung von Odenthal sehe, sondern lediglich als Verdeutlichung des Unterschieds. Und auch wenig damit zu tun hat, wieviel die Lektüre bei dem Leser in Bewegung setzt (Lem bei Dir offensichtlich viel mehr als Odenthal). Odenthal vorzuwerfen, dass Du seinen Ozean ledliglich oberflächlich betrachtest und dann alles gleich aussieht, ist aus Deiner Sicht sicherlich richtig, wird dennoch Odenthal in keiner Weise gerecht.

Der von Dir aufgeführte Verräter ist ein relativ einfaches Beispiel. Natürlich ist der Verräter keiner. Minkey hat Recht: Bei Hyperdrive ist nichts, wie es an der Oberfläche aussieht. In diesem Beispiel ist das recht einfach zu sehen, es wundert mich deswegen tatsächlich auch, dass Du hier von einem Verräter sprichst.

Für Leser, die das Buch noch lesen wollen: Ich werde jetzt SPOILERN. Bitte nicht weiterlesen...

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Der Verräter ist nie einer gewesen. Die Stelle, die Du zitierst, zeigt das deutlich. Der "Verräter" ist gegenüber Giebra loyal und letztlich vor allem ihm verpflichtet, ansonsten versucht er nur sich durch die Situation zu lavieren. Er wird sowohl durch die Rebellen, als auch durch die UON erpresst, für sie zu arbeiten. Er arbeitet für sie, indem er ihnen Informationen gibt, von denen er glaubt, dass sie nutzlos sind. Dennoch führt eine dieser Informationen entgegen seiner Intention dazu, dass Dugan gefangengenommen wird. Dadurch gewinnt die UON an Macht über ihn. Er ist eine tragische Figur.

Wenn man, wie Du es machst, die Charaktere von Hyperdrive aus weiter Höhe betrachtet, mag man zu der Einschätzung kommen, dass sie alle gleich charakterisiert sind, irgendwie zerrissen. Letztendlich zeigt das lediglich, dass Du keine Lust hattest, den Charakteren nachzuspüren. Samantha, Giebra, Dodo, Kike, Revaid, Kaitar usw. sind sehr sehr unterschiedlich charakterisiert.

Walser und Dugan sind die Ausnahme: Sie besitzen einen sehr ähnlichen und extremen Charakter, dies ist auch zur Verdeutlichung von Odenthals Thesen notwendig, da er die Auswirkung ihrer Umgebung verdeutlichen will. Beide wirken nicht zerrissen, sondern sehr zielgerichtet und verfolgen Ziele, die sie zu Feinden machen. Tatsächlich ist aber Dugan in sich ruhend und strahlt in jeder Situation eine äußerste Selbstsicherheit aus. Walser ist ebenfalls selbstsicher, intelligent, charismatisch. Dennoch gibt es einen entscheidenen Unterschied zwischen Walser und Dugan: Walser ist unglücklich (z.B. sehr deutlich bei seinem Traum in Dramenform), opfert sich selbst dem ständigen Aufstiegskampf in einer Hierarchie (Sehr deutlich in seiner Beziehung zu seinem Vorgesetzten General Huybrechts, den er immer als Schuhputzjunge bezeichnet), stellt seine Kompetenzen einem Apparat zur Verfügung, dessen Ziele er übernehmen muss, auch wenn sie nicht seine eigenen sind. Dugan hingegen bezieht seine Kraft aus der Selbstverwirklichung. Verfolgt seine eigenen Ziele, übernimmt Verantwortung nicht, weil er einen Posten hat, sondern weil es seinen Fähigkeiten entspricht. Dieses Leitthema wird in Hyperdrive in unzähligen Details, wie auch im Aufbau gespiegelt.

Odenthal diskutiert in Hyperdrive u.a. unterschiedliche Gesellschaftsformen und wie sie sich auf die Ethik des Menschen darin auswirken.

UON und die Anthrochora spiegeln diese Thesen genauso wie Kronos und Baijaku, das UON-Militär und die Rebellen, Walser und Dugan. Doscani spricht in diesem Zusammenhang von dem Unterschied zwischen Ämterdemokratie und Delegationsdemokratie.

Folgt man Odenthal, dann sieht er es als Voraussetzung für eine Verbesserung der Gesellschaftsformen an, dass Menschen in der Lage sind, die Mechaniken hinter dem Vordergrund zu erkennen. In Hyperdrive zeigt er es uns am Beispiel von Dugan. Gleichzeitig verdeutlicht er in Dugan auch die Verantwortung und die Macht des Einzelnen, nicht nur bezüglich seines eigenen Glücks, sondern auch bzgl. der Gesellschaft. So sagt Doscani in Bezug auf Dugan: "Dass Menschen zu einer gegebenen Zeit an einem bestimmten Punkt stehen, kann den Lauf von Gesellschaften beeinflussen."

Dieser Satz spiegelt sich z.B. auch im Lieblingsgedicht von Dugan:
"Die Klinge meines Schwerts trennt Vergangenheit von Zukunft und ist doch nichts, ein Glitzern, das schon war und kaum erinnert: doch aus dem Schnitt strömt Blut."

Samantha ist die Identifikationsfigur des Leser. Hyperdrive ist ein Entwicklungsroman. Samantha erfährt zunächst die Eigenschaften einer hierarchischen, auf Ämter ausgerichteten Gesellschaftsform auf Kronos. Platt gesagt: es geht darum seinen Posten zu erkämpfen und dabei Ziele zu verfolgen, die einem vorgegeben werden. Wenn die Kronos-Episode damit beim Leser ein ungutes, unbefriedigendes Gefühl auslöst, dann hat Odenthal offensichtlich das erreicht, was er beim Leser vermitteln wollte.

Baijaku ist das Gegenteil davon, eine freie Gesellschaftsform in der jeder seine eigenen Ziele verfolgt und verwirklicht. Notwendig ist aus Odenthals Sicht dazu eine gehörige Portion Selbstreflektion und Erkennen der hintergründigen Mechanismen. Samantha ist weiterhin die Identifikationsfigur des Lesers. Sie ist überfordert mit dieser neuen Situation, ist im Gegensatz zu Giebra nach wie vor nicht in der Lage hinter die Kulissen zu schauen, möchte weiter agieren, wie sie es von Kronos gewöhnt ist.
Die unterschiedlichen Sichtweisen von Samantha und Giebra findet sich z.B. wunderbar in dieser Leseprobe wieder:
http://www.goodreads.com/story/show/320593-hyperdrive

In der Leseprobe wird der Hack von Giebra in Cyberspace-Manier geschildet. Tatsächlich steht Giebra für den hintergründigen Leser bzw. Menschen, der die eigentlichen Themen/Thesen versteht und ein Buch oder auch die Welt in einer ganz anderen Sicht sieht.
Samantha hingegen verbleibt im vordergründigen, fühlt sich dann im weiteren Kapitel von der vordergündigen Handlung angezogen und fasziniert, während Giebra dort möglichst schnell flüchten möchte.
Für mich ist z.B. diese Stelle ganz große Kunst. Gänsehaut...
Und es gibt vieles in dieser Art in Hyperdrive.

Odenthal möchte mit Hyperdrive u.a. den Leser von dieser vordergründigen Art zu Denken zu einer hinterfragenden, hintergründigen Art bringen. Dies spiegelt sich z.B. auch im Buch, das Samanatha bei der Anthrochora findet:
"Auf dem Tisch im Wohnzimmer fand sie ein wunderschön gefertigtes, handgebundenes interaktives Buch. Sie schlug es auf, fand den Stift in der Schlaufe des Rückens, schrieb versuchsweise auf den Seiten und stellte, als daraufhin Artikel zu den von ihr geschriebenen Stichworten erschienen, fest, dass sein Synthopapier sowohl über eine Output- und Inputschicht verfügt, sie darüber Informationen erhalten aber auch eigene Gedanken festhalten konnte."

Ohne Zweifel ist Hyperdrive genau dieses Buch. So sehe ich es auch nicht als Zufall an, dass in Hyperdrive die Hyperdrive-Sprünge eben nicht über Wurmlöcher erfolgen. Es geht hier um einen ganz anderen Sprung. In diesem Zusammenhang ist es z.B. wesentlich wie die Menschheit zu dieser Technik kam und wie sie funktioniert, was ein Nirlot ist etc.

Was mich an Hyperdrive aber am meisten beeindruckt hat, ist die Verhörszene in Kap. 19. Nie wurde mir so deutlich und am eigenen Leib vor Augen geführt, wie wichtig Selbstreflektion, Hinter-die-Kulissen-schauen und das Verfolgen der richtigen Ziele ist. Aber das ist an der Stelle tatsächlich nicht gerade einfach zu entschlüsseln. Man muss sich da wirklich ein bisschen hineinknien. Großartig finde ich dann wieder, dass es keine Rolle spielt, ob man sie entschlüsselt oder nicht. Je nachdem, kommt man mit Walsers oder Dugans Erkenntnis aus der Szene raus. Diese Erkenntnis ist zwar entgegengesetzt, beides funktioniert aber für die weitere Geschichte.

Ein großartiges Buch und ich hoffe sehr auf eine baldige Fortsetzung.