Interview mit Judith und Christian Vogt
Literatopia: Hallo, Judith, hallo, Christian! Für „Die zerbrochene Puppe“ habt Ihr dieses Jahr den Deutschen Phantastik Preis gewonnen. Wie habt Ihr den Abend der Preisverleihung erlebt?
Judith Vogt: Aufgeregt. Wir haben noch nie irgendeinen Preis gekriegt. Mir ging der Arsch wirklich auf Grundeis, als mir klar wurde, dass wir jetzt nach vorn müssen … Für unser Nervenkostüm war es natürlich günstig, dass wir nach dem Ehrenpreis beim ersten verliehenen Preis des Abends dran waren.
Literatopia: Was erwartet interessierte Leser in „Die zerbrochene Puppe“?
Christian Vogt: Dazu zitiere ich einfach mal eine alte Version des Klappentextes, der es nicht in die fertige Ausgabe geschafft hat: „Naðan, ein verrückter Künstler, dessen Verstand mit dem Tod seiner Frau zerbrach. Ynge, eine sprechende Puppe. Æsta, die Stadt auf dem Eisberg. Friesische Luftschiffpiraten. Eine begehrte Gasbatterie. Künstliche Menschen.
Noch vieles mehr erwartet Sie, geneigter Leser, in diesem Band voller Wunder und Gefahren! Erleben Sie eine Erde, wie sie hätte sein können. Eine Erde, beherrscht von Eis, Dampf und Intrigen! Lassen Sie sich entführen in eine Welt der düsteren Wissenschaft und makaberen Kunst! Schlagen Sie die Seiten dieses Buches auf, atmen Sie den Geruch des eisigen Nordmeeres, und begleiten Sie Naðan auf seinem Weg der Vergeltung für seine geliebte Ehefrau. Und Ynge wartet ...“
Literatopia: Nach dem Mord an seiner Frau trägt Euer Protagonist Naðan eine Puppe mit sich herum, die zu ihm mit der Stimme der Verstorbenen spricht. Welche Rolle spielt die Puppe, die „Ynge“ genannt werden will, in der Geschichte?
Judith Vogt: Ynge ist ein eigener Charakter, manchmal die mahnende Stimme der Vernunft, manchmal die Stimme der Verstorbenen, ein Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die für Naðan dauerhaft verloren ist. Definitiv wäre die Geschichte ohne Ynge eine ganz andere geworden.
Literatopia: Wie seid Ihr dazugekommen, Eurer Steampunkwelt eine Eiszeit aufzubürden? Und welche Probleme ergeben sich daraus für die Menschen im Roman?
Christian Vogt: Die Eiszeit dient als Erklärung, warum viele historische und technische Entwicklungen anders gelaufen sind als in der Realität. Zum Beispiel ist die Luftfahrttechnik viel weiter als in der realen Zeitlinie im 19. Jahrhundert, Waffentechnik und Seefahrt hingegen bleiben zurück. Details zur alternativen Zeitlinie wird es bald in der Kurzgeschichtensammlung „Eis und Dampf“ geben. Die Menschen erleben daher im Norden eine sehr viel härtere Welt. Der Süden ist dafür sehr viel fruchtbarer. Auch die noch nicht erfolgte Entdeckung Amerikas hat große Auswirkungen: Keinen Mais, keine Kartoffeln, kein Tabak (so dass sie obligatorischen Zigarren fehlen), selbst keine Schokolade …
Literatopia: Wie habt Ihr in der komplexen Welt von „Die zerbrochene Puppe“ den Überblick behalten? Arbeitet Ihr mit Kartenmaterial und Notizen oder habt Ihr alles im Kopf? Und wie sah eigentlich Eure Arbeitsteilung aus?
Judith Vogt: Kartenmaterial gibt es erst seit der Kurzgeschichtensammlung „Eis und Dampf“. Und auch das meiste andere war primär in unserem Kopf, bis wir es für die anderen zehn Kurzgeschichtenautoren mal zu Papier bringen mussten. ;) Aber natürlich ist in der Welt genug Platz, damit auch die ihre Ideen noch einbringen konnten.
Bei der „Puppe“ hat Christian eher mitgeplant und war für die Physik „zuständig“. Texte aus seiner Feder gibt es in diesem Roman noch eher weniger – daran hat er sich, nach einigen eigenen Kurzgeschichten für die „Krieger“-Anthologie und „Das Schwarze Auge“ erst bei „Schwertbrüder“ gewagt. ;)
Literatopia: Christian, Du bist promovierter Physiker. Wie „realistisch“ sind die technischen Errungenschaften in „Die zerbrochene Puppe“?
Christian Vogt: Ich behaupte: sehr. Das meiste sollte zumindest theoretisch möglich sein, auch wenn die Erklärungen natürlich antiquiert sind. Radar beispielsweise erfasst keine Wirbel im Äther, da es diesen ja nicht gibt. Einzig die Shellys sind sehr grenzwertig, für die werden mich die Biologen hauen wollen ;).
Und da ist natürlich noch der Maxwellsche Dämon, der hier „funktioniert“, in der Realität aber nicht. Heutzutage gibt es auch eine Erklärung dafür, warum er nicht existieren kann. Dies ist wohl der einzige wirklich übernatürliche Aspekt in der zerbrochenen Puppe. Aber ich will jetzt nicht zu viel verraten.
Literatopia: Was macht guten Steampunk für Euch aus? Gibt es klassische Elemente, die nicht fehlen dürfen? Und muss ein Steampunkroman zwingend im 19. Jahrhundert spielen?
Christian Vogt: Nein, ich halte das Genre „Steampunk“ für ein weites Feld. Daher ist es wohl so schwierig, den Begriff zu definieren. Manche grenzen ihn von Teslapunk, Dieselpunk, Atompunk, Whalepunk, Ätherpunk, Was-weiß-ich-punk, ab. Das soll meiner Meinung nach aber jeder machen, wie er mag. Wir haben mit unserem Geschmack, den wir in der zerbrochenen Puppe zu Papier gebracht haben, wohl eine sehr klassische Definition des Steampunk angesprochen, nur eben nicht im viktorianischen London, sondern größtenteils in Deutschland.
Literatopia: Steampunk war dieses Jahr beim Deutschen Phantastik Preis sehr präsent, trotzdem wird dem Genre ein Nischendasein nachgesagt. Woran liegt es Eurer Meinung nach, dass sich der Steampunk über seine begeisterte Fangemeinde hinaus scheinbar schwer ausbreiten kann?
Judith Vogt: Alles Neue hat es erstmal schwer, und für Viele ist der Gedanke von Retro-Science-Fiction etwas Neues. Und der Begriff „Steampunk“ ist an sich schon ein wenig freakig und macht es dem Genre nicht leichter, aus der Nische herauszutreten. Mal sehen – Steampunk ist sicher nicht per se „der neue Harry Potter“, auf den die großen Verlage warten. Aber es muss ja auch nicht alles der neue Harry Potter sein – es lebe die bunte Romanvielfalt!
Literatopia: Für die Steampunk-Anthologie „Eis und Dampf“, die in der Welt der „Zerbrochenen Puppe“ spielt, habt Ihr ein Crowdfunding-Projekt gestartet. Wie lief’s? Habt Ihr Eure Ziele erreicht?
Christian Vogt: Wir haben sie sogar übertroffen und die doppelte Summe erreicht. Damit sind beide Stretchgoals, eine Karte und eine Printausgabe finanziert. Das hätten wir nie gedacht, als wir das Projekt zusammen mit Feder & Schwert gestartet haben. Das zeigt, dass unsere tollen Autoren eine gute Fanbase haben, und dass Steampunk wohl doch mehr Potential hat in der Leserschaft, als bisher ausgeschöpft wird von etwa den großen Verlagen.
Literatopia: Ihr habt bereits für das bekannte Fantasy-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“ geschrieben. Geht man an ein solches Projekt anders heran als einen Roman mit eigener Welt?
Judith Vogt: Grundsätzlich würde ich sagen: Nein. Egal, wo die Geschichten spielen – mir ist immer wichtig, dass sie stimmungsvoll sind, dass sie eigene, lebendige Charaktere hervorbringen und dass die Welt um diese Charaktere herum passt. Aventurien ist eine vorgegebene Welt, in der man aber natürlich auch an unverhofften Ecken Interessantes und Inspirierendes findet.
Rollenspielromane sind an sich halt ein wenig als noch-trivialer-als-normale-Fantasy verschrien. Ich kenne viele Rollenspielromanautoren, und ich weiß, dass ich für die meisten von uns spreche, wenn ich sage: Wir geben auch bei den Rollenspielromanen alles, was wir haben, damit ein guter Roman dabei rauskommt. Dieses Jahr ist es natürlich einfach klasse, dass eine Rollenspielromanreihe dann tatsächlich mal die Kategorie „Beste Serie“ geknackt hat.
Literatopia: Im Sommer ist Euer historischer Roman „Schwertbrüder“ erschienen, der im belgischen Gallien angesiedelt ist. Was fasziniert Euch an dieser Zeit? Und welche Abenteuer können die Leser dort erleben?
Judith Vogt: Wir haben ja grundsätzlich eine Sympathie für alles Aufständische – seien es die Rebellen bei Star Wars oder die Schotten unter William Wallace. Wir beschäftigen uns schon seit Jahren mit dem ersten Aufstand der Gallier, der im belgischen Gallien stattgefunden hat (und das ist nicht nur Belgien, sondern auch die Niederlande, Luxemburg und Westdeutschland bis zum Rhein).
54 v. Chr. wagt es mehr als ein kleines Dorf, dem Eindringling Widerstand zu leisten – aber dieser Aufstand unter den Königen Ambiorix und Indutiomaro ist nicht wegen eines Zaubertranks erfolgreich, sondern aufgrund der Tatsache, dass die gallischen Fürsten, die Rom bereits Gefolgschaft geschworen hatten, zu Eidbrechern werden. Eine Geschichte von Verrat also, von Hoffnung und Rache.
Literatopia: Wie viele historische Fakten stecken in „Schwertbrüder“? Und wie groß ist der Rechercheaufwand für einen historischen Roman?
Christian Vogt: Groß. Die Kelten haben ihre Geschichte nicht aufgeschrieben. Daher haben wir was Schriften angeht nur Informationen der Gewinnerseite, vor allem „Über den Gallischen Krieg“ von Julius Caesar, was erwiesenermaßen ein Propagandablättchen ist.
Und wenn sich dann die Funde nicht an die „Setzungen“ aus dem Werk halten, wird es kompliziert. Aber wir hatten zum Glück viel Hilfe von Archäologen und Historikern (etwa unserem Verleger). Es hätte sich also nach heutigem Kenntnisstand genauso ereignet können wie im Roman beschrieben.
Literatopia: Wie seid Ihr eigentlich zum Schreiben gekommen? Könnt Ihr Euch noch an die Anfänge erinnern?
Judith Vogt: Ich bin ein typischer Fall von Infizierung im zarten Kindesalter. Ich habe nach vielen vergeblichen Romananfängen mit 17 meinen ersten Roman fertiggeschrieben – eine dystopische Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen einem opportunistischen Motorradnazidrogendealer und einer Einwanderin in New York. Bin ich froh, dass das nie erschienen ist. Aber an die Namen von den Motorradgangmitgliedern kann ich mich noch erinnern. Die hatten irgendwie alle die Vornamen der Leute, die auf den Filmpostern standen, die mein Jugendzimmer zierten ...
Literatopia: Was lest Ihr gerne? Vorzugsweise Steampunk? Oder querbeet durch alle Genres?
Christian Vogt: Tatsächlich haben wir bisher recht wenig Steampunk gelesen, bevor wir die Puppe geschrieben haben, und holen jetzt Vieles nach. Wir lesen ansonsten vor allem Fantasy (solange es sich nicht um die üblichen Tolkienklone handelt. Momentan: „Der Amboss der Welt“ von der wunderbaren Kage Baker) und historische Romane (solange sie gut recherchiert sind, einem ein authentisches Gefühl für ihre Zeit vermitteln und nicht gerade nach dem Schema der Wanderhure funktionieren. Momentan: „Das Fort“ vom großartigen Bernard Cornwell ).
Judith liest gerade das sehnsüchtig erwartet „The Republic of Thieves“ von Scott Lynch. Ansonsten machen uns die Romane unserer Kollegen bei Feder & Schwert, Ammianus und Ulisses große Freude. Durch unsere Zusammenarbeit mit diesen Verlagen haben wir schon einige tolle Schätze entdeckt, die uns abseits von den Bestsellerlisten entgangen wären.
Literatopia: Was wird uns in naher Zukunft von Euch erwarten? Werdet Ihr wieder zusammen Steampunk schreiben oder Euch verstärkt der Historik widmen?
Christian Vogt: Als nächstes steht Schwertbrüder 2 auf dem Programm. Aber irgendwann wollen wir auf jeden Fall wieder Steampunk schreiben, und zwar in „unserer“ Eiszeit. Entweder in Form eines Romans oder eines Rollenspiels. Der Kontinent Amerika harrt ja schließlich noch seiner Entdeckung …
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Christian Vogt: Wir haben zu danken!
(Judith und Christian Vogt bei der Verleihung des Deutschen Phantastik Preises 2013)
Autorenfotos: Copyright by Lucia Zanders (oben) und Stefan Holzhauer / CC BY-NC-SA (unten)
Autorenhomepage: www.jcvogt.de
Interview mit Judith und Christian Vogt (Juli 2020)
Interview mit Judith C. Vogt (Januar 2018)
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Dieses Interview wurde von Judith Gor für Literatopia.de geführt. Alle Rechte vorbehalten.