Das Ungeheuer (Terézia Mora)

mora ungeheuer

Luchterhand, 2.9.2013
Gebunden, 688 Seiten
€ 22,99 [D] | € 23,70 [A] | CHF 32,90
ISBN: 978-3-630-87365-7

Genre: Belletristik


Inhalt

Nach neun gemeinsamen Jahren mit dem IT-Experten Darius Kopp begeht die Ungarin Flora, eine Dolmetscherin und Kellnerin, Selbstmord. Darius verlässt in seiner Trauer die Wohnung zehn Monate lang nicht. Er findet Floras digitales Tagebuch, das er aus dem Ungarischen übersetzen lässt. Nach einem Jahr begibt er sich auf eine Reise. Er will die Urne mit Floras Asche in Ungarn beisetzen. Unterwegs liest er Floras Tagebuch im Ausdruck. Darius erscheint in dieser Zeit als ein Mann, der ziellos umherirrt, seinem Leben durch Urne und Tagebuch eine Richtung geben will, getrieben durch Schuldgefühle und die Einsicht in die Unfähigkeit der Fortsetzung seines bisherigen Lebens.


Rezension

Das Ungeheuer erzählt die Geschichte des Darius Kopp aus Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent weiter. Die ersten Zeilen des Romans finden sich auch im Vorgänger, anfangs wortgetreu, dann mit kleinen Abweichungen in Zeichensetzung und Wortwahl. Es fehlt Text, und wir lesen weiter in beiden Büchern: „ausgerechnet hier geriet etwas durcheinander“. Jedoch, statt eines Arms, der sich ins Bild schiebt, stört in Das Ungeheuer ein Flattern das Bild: Darius Kopp erinnert diese Szene. Die Verschränkung von Gegenwarts- und Vergangenheitsebene ist charakteristisch für Moras Roman.

Darius Kopp erinnert sich weitgehend in Form eines inneren Monologs. Der Text ist dabei oft so detailfreudig in seiner trüben Stimmung, das alles, was Darius einfällt, auch wenn er, wie er sagt, Mist denkt, minutiös referiert wird, so minutiös, wie ein Mensch sich nicht erinnern kann, aber dennoch erinnert. Jede erinnerte Szene wird deshalb von Darius zugleich neu erfunden. Manche Dinge will man als Leser vielleicht gar nicht wissen. Und darf die Frage stellen, warum es erzählt wird, wo es nichts von zusätzlichem Erklärungswert dem bereits Geschriebenen hinzufügt. Erkennbar ist daran etwas Zwanghaftes, wenn Darius die Erinnerung an Flora als Prozess des Bewahrens zu verstehen scheint, gleich, ob es auf 200 oder 300 Seiten geschieht. Die minutiöse Erinnerung scheint die Gegenwart im Verhältnis Eins-zu-eins (oder zumindest nahe daran) zu ersetzen, für Darius ersetzen zu sollen. Bei soviel Erinnerung ist kein Platz mehr für Gegenwart. Da es Erinnerungen sind, kann man nicht sagen, sie seien genau in der Beobachtung, aber sie sind in der Wiedergabe penibel und erzeugen eine Langsamkeit, die der vielleicht angestrebten Deckungsgleichheit der Zeitebenen entgegenkommt. Darius lernt seine Frau aus den Tagebuchaufzeichnungen neu kennen und verankert zugleich das Neue im Alten, das für die gemeinsame Zeit steht.

Während er sich erinnert, reist er, auf der Suche nach einem Ort für Floras Asche, liest Floras Tagebuch, lernt fremde Menschen kennen. Zu Beginn bezieht er sich direkt auf die Tagebuchlektüre, später dann laufen Reise und Tagebuch eine zeitlang nebeneinander. Darius lernt die Studentin Oda kennen, die ihn einen Teil seines Weges begleitet. Zwischen Flora und Oda gibt es wechselseitig Überlagerungen im Denken und Fühlen Darius’. Oda ist nicht seine einzige Wegbegleitung. Und so gewinnt die Gegenwart langsam wieder mehr Profil, steht irgendwann neben der Vergangenheit.

Flora war passiv, mit gelegentlichen Aktiv-Ausschlägen. Sie gehörte dazu, wenn sie sich sexuell benutzen ließ, hatte den Ruf, mit jedem ins Bett zu gehen. Darius erfährt dies erst aus ihren Tagebüchern. Sie gerät immer wieder an Männer, Bekanntschaften wie zufällige Begegnungen, die sie demütigen, sexuell belästigen. Sie denkt daran, zur Polizei oder einer Beschwerdestelle zu gehen, lässt es dann aber sein, weil es sinnlos ist oder sie es dafür hält. Einmal beschwert sie sich im Traum, aber es erfolgt keine Reaktion.

„Natürlich hätte auch er nach einer Weile angefangen, mich schlecht zu behandeln. Er wegen der Geschenke, die mich in seinen Augen zur Hure machen. Aber das ist egal, denn die anderen schenken mir nichts, denken trotzdem, mich verachten zu dürfen.“ (S.157f.)

Flora hat Schübe von Glück und Depressionen. Sie schreibt über Skalen zur Erfassung des Schweregrades einer Depression, Wirkungen und Nebenwirkungen von Antidepressiva.

Die Zweiteilung des Romans im laufenden Text, Darius oben, die Aufzeichnungen seiner Frau unten, bewirkt das Nebeneinander von zwei Perspektiven einer Beziehung. Darius erfährt nicht nur etwas über die gemeinsamen Jahre aus Sicht Floras, er liest auch über die Zeit vor dieser Beziehung, Floras Jahre ohne Darius. Und natürlich die neun gemeinsamen Jahre, in denen sie einander Teile ihrer selbst offenbarten, andere Teile hingegen verbargen.

Mora arbeitet mit filmischen Mitteln. Sie erzeugt in der konsequenten Zweiteilung der Seiten, oben Darius, unten Flora, eine Art Split Screen, bei dem gelegentlich der untere Teil leer ist. Die Aufteilung wirkt nicht zwingend, stellt uns vor die Frage, wie wir den Text sinnvoll lesen sollen. Wir können den Kapitelangaben der Autorin folgen, können in selbst gewählten Abschnitten zwischen Darius und Flora wechseln, oder lesen erst den gesamten oberen, dann den unteren Text – oder umgekehrt. Die Tagebuchpassagen, auf die Darius sich direkt bezieht, hätten vor diesen Referenzstellen stehen können, die anderen als Material der zweiten Figur irgendwo eingefügt.

Interessant jedoch wird diese Aufteilung dadurch, dass die Zäsuren nicht synchron sind. Man kann beide Teile so lesen, dass man mal früher, mal später als Darius Informationen von Flora erhält und die Gedanken Darius’ über das Gelesene mit unterschiedlichen Voraussetzungen liest und reflektiert. Die Montage des Textes ist auch über diese Teilung hinaus interessant: Darius' Geschichte wird in der dritten Person Singular erzählt, unvermittelt unterbrochen durch Einfügungen mit Darius als Ich-Erzähler oder durch Dialoge. An wenigen Stellen stehen kursive Zitate, ist Text durchgestrichen und durch anderen ersetzt. Da es sich um Erinnerungen handelt, könnten die Textänderungen von Darius stammen, der Form nach aber auch von der Autorin.


Fazit

Terézia Mora hat für Das Ungeheuer den Deutschen Buchpreis 2013 erhalten. Der Roman erzählt vom Ende einer Ehe durch Suizid der Frau, der Ohnmacht des Hinterbliebenen und seinen Bemühungen, das Geschehen zu verstehen. Darius begibt sich auf eine Reise, um anzukommen, weiß aber nur nicht, wo. Die Jury bezeichnete Das Ungeheuer als „tief bewegenden und zeitdiagnostischen Roman“.


Pro und Contra

+ viele gelungene Bilder erzeugen Korrespondenzen zwischen Form und Inhalt
+ es wird deutlich, wie das Erinnerte von der psychischen Befindlichkeit des Erinnernden abhängt
+ viel Redundanz gibt Aufschluss über Floras Denken, Fühlen, hilflose Selbstumkreisungen

- viel Redundanz im Flora-Teil (Rezepte, Angaben der Nebenwirkungen von Medikamenten aus Beipackzetteln, mehrfache Beschreibungen ähnlicher Ereignisse oder Gedanken)

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lektüreertrag: 4/5
Preis/Leistung: 4/5