Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (Rachel Joyce)

joyce r-harold fry

Fischer Verlag, 1. Auflage, Mai 2012
gebunden, mit Schutzumschlag, 384 Seiten
OT: The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry
aus dem Englischen von Maria Andreas
€ 18,99 [D] | € 19,50 [A] | CHF 27,50
ISBN: 978-3-8105-1079-2
Gelesen im englischen Original

Genre: Belletristik


Klappentext

»Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten. Ich werde Dich retten, Du wirst schon sehen. Ich werde laufen, und Du wirst leben.«
Harold Fry will nur kurz einen Brief einwerfen an seine frühere Kollegin Queenie Hennessy, die im Sterben liegt. Doch dann läuft er am Briefkasten vorbei und auch am Postamt, aus der Stadt hinaus und immer weiter, 87 Tage, 1000 Kilometer. Zu Fuß von Südengland bis an die schottische Grenze zu Queenies Hospiz. Eine Reise, die er jeden Tag neu beginnen muss. Für Queenie. Für seine Frau Maureen. Für seinen Sohn David. Für sich selbst. Und für uns alle.
Ein ganz außergewöhnlicher und tief berührender Roman – über Geheimnisse, besondere Momente und zufällige Begegnungen, die uns von Grund auf verändern. Über Tapferkeit und Betrug, Liebe und Loyalität und ein ganz unscheinbares Paar Segelschuhe.


Die Autorin

Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Original-Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. ›Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry‹ ist ihr erster Roman. Er erscheint in über 30 Ländern auf der ganzen Welt. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.


Rezension

Harold Fry ist ein ruhiger Mann, in sich gekehrt und hilflos im Angesicht von Emotionen oder körperlicher Nähe. Seit er vor einigen Jahren in Rente gegangen ist, lebt er mit seiner Frau in ihrem beschaulichen Haus in Kingsbridge, an der Südküste Englands. Ihr Alltag wird eines morgens durcheinander gebracht, als ein pinkfarbener Briefumschlag in der Post liegt. Der darin enthaltene Brief von einer ehemaligen Arbeitskollegin trifft Harold tief: Queenie Hennessy hat Krebs. Obwohl explizit erwähnt wird, dass keine Rückantwort nötig ist, versucht sich der erschütterte Harold an tröstlichen Zeilen, versagt aber im Angesicht der fatalen Diagnose. Mit ein paar mickrigen macht er sich auf Postkasten – mit nicht mehr als seinem Portemonnaie, einer Regenjacke und Segelschuhen an den Füßen. Aus dem kurzen Marsch um die Ecke wird ein Gang zum Postamt, denn das Wetter ist gut und Harold sucht einen Weg, das Absenden des Briefes hinauszuzögern. Immer unsinniger erscheinen ihm seine Worte. Während er von Briefkasten zu Briefkasten läuft, trifft er in einer Garage ein junges Mädchen, die ihm eine Geschichte über Glaube und Willenskraft erzählt. Beseelt von dieser Geschichte beschließt Harold, Queenie nicht sterben zu lassen. Zu Fuß macht er sich auf den Weg nach Norden, überzeugt, dass Queenie dem Krebs die Stirn bieten kannen, wenn er ihr nur einen Grund dazu gibt. Seinen Brief an Queenie ergänzt er mit folgenden Worten, bevor er ihn abschickt:

Ich bin auf dem Weg. Du musst nur durchhalten.

1000 Kilometer trennen Harold Fry von der ehemaligen Kollegin und Freundin Queenie Hennessy. 1000 Kilometer, die ihm insbesondere am Anfang unendlich erscheinen, denn weder ist er besonders fit, noch hat er die passende Ausstattung dabei. Umkehren möchte er dennoch nicht, aus Angst, der Wille zu Laufen würde ihm in der gewohnten Umgebung seines Hauses verlassen. Während er den Straßen Englands nordwärts folgt, trifft Harold die unterschiedlichsten Menschen und Schicksale kennen. Ob es an seiner stillen Art liegt oder daran, dass er ein Fremder auf der Durchreise ist, die Menschen öffnen sich ihm, erzählen ihm ihre Geheimnisse und zeigen sowohl ihre dunkle Seite wie Zerbrechlichkeit und Großmut. Mit der Zeit lernt Harold, der immer sehr zurückgezogen lebte, die Menschen schätzen. Aber vor allem genießt er die Zeit allein.

Inmitten der malerischen Landschaften Englands streifen seine Gedanken zurück, zu den schönen und schlechten Momenten, aus denen sich sein Leben zusammensetzt. Mit jedem Schritt erfahren wir mehr über Harold, über seine Kindheit zwischen einem alkoholsüchtigen Vater, der ihn zumeist ignorierte, und die liebevolle, aber distanzierte Mutter, die ihn im Alter von 12 Jahren verließ. Immer tiefer verliert sich Harold in seinen Erinnerungen und beginnt, sich selbst mit offenen Augen zu sehen. Er reflektiert über die gestörte Beziehung zu seinem Sohn, die Ehe, die keine mehr ist, und vor allem und immer wieder Queenie – die wohl einzige Freundin seines Lebens, die er so bitterlich enttäuscht hat. Während er wandert, sitzt seine Frau Zuhause, in einem Haus, das noch stiller als sonst, und weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Mit den Karten Harolds findet auch sie Stück für Stück ins Leben zurück, wobei ihr ein hypochondrischer Nachbar unverhofft Hilfestellung leistet.

Joyce erzählt die Geschichte aus der Sicht von Harold und seiner Frau Maureen. Bereits am Anfang merkt man, die ungewöhnliche Stimmung zwischen dem Paar, und die Verschiedenheit ihrer Charaktere setzt sich auch in ihren Kapiteln fort. Der introvertierte Harold beobachtet gern, seine Kapitel sind detailreich und insbesondere die Beschreibungen der Landschaft kreieren malerische Bilder und den Wunsch, es ihm gleich zu tun. Unwillkürlich packt einen selbst der Gedanke, die Schuhe anzuziehen und einfach loszuziehen. Maureen dagegen ist insbesondere am Anfang sehr auf sich fixiert. Dramatische Ereignisse in ihrer Vergangenheit haben sie in ein Trauma gestürzt. Sie wirkt oft fahrig und ich bezogen, aber auch sie muss lernen, dass Verdrängung und ständige Bewegung Stillstand verursachen.

Neben Maureen und Harold überzeugen aber auch die vielen Nebencharaktere mit ihren Schwächen und Abgründen, aber vor allem ihrer Hilfsbereitschaft. Aus temporären Gesprächen bei einem Kaffee werden schließlich Sympathisanten und gegen Ende auch Weggefährten, die aus ganz eigenen Gründen wandern – Flucht, der Wunsch sich zu beweisen oder der Gedanken an Ruhm. Je größer die Gruppe wird desto unwohler fühlt sich Harold, und der Leser mit ihm. Wie der Protagonist wünscht man sich zurück in die Einsamkeit, erfreut sich aber auch an der Vielfalt der menschlichen Palette, die Joyce verwendet.


Fazit

So ungewöhnlich wie Harold und sein Leben, so berührend ist seine Geschichte. Still und einfühlsam erzählt Rachel Joyce von Freundschaft, verlorener Liebe und Menschlichkeit, über den Willen, über sich selbst hinauszuwachsen und die unmittelbare Reise ins Selbst, welches wir in unserer hektischen Welt zu oft verlieren. Mit Harold Fry durch England laufen, heißt sich selbst zu begegnen.


Pro/Contra

+ Charakterzeichnung
+ Charakterentwicklung
+ sensible Geschichte voller Facetten
+ überraschende Einblicke und Wendungen

Bewertung: sterne5

Charaktere: 5/5
Handlung: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5