Heyne, 28.10.2013
Originaltitel: An Officer and a Spy (2013)
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Gebunden, 624 Seiten
€ 22,99 [D] | € 23,70 [A] | CHF 32,90
ISBN: 978-3-453-26878-4
Genre: Historik, Thriller
Inhalt
Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ist das Verhältnis zwischen beiden Nationen stark angespannt. Im Jahr 1894 wird Hauptmann Alfred Dreyfus erstmals verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, die Landesverteidigung betreffende Dokumente an die Deutschen gegeben zu haben. Der erste Prozess vor dem Kriegsgericht wird 1896 abgehalten. Die Beweisführung ist absonderlich, geheime Unterlagen, die der Verteidigung nicht vorliegen, sollen zweifelsfrei Dreyfus’ Schuld belegen. Er wird öffentlich gedemütigt, unter dem Geschrei „Tod den Juden“ degradiert und dann auf die Teufelsinsel vor der Küste Südamerikas deportiert, einer früheren Strafkolonie, die für ihn wieder in Betrieb genommen wird.
Marie-Georges Picquart, Prozessbeobachter des Kriegsministeriums, ist von Dreyfus’ Schuld überzeugt, zugleich aber irritiert, dass der Angeklagte unter allen ihn demütigenden Umständen darauf beharrt, unschuldig zu sein. Picquart wird Leiter der Statistischen Abteilung, die nichts anderes ist als der militärische Geheimdienst. In diesem Amt findet er heraus, dass Dreyfus unschuldig ist. Picquart entlarvt den tatsächlich Verantwortlichen. Als er seine Erkenntnisse seinen Vorgesetzten vorträgt, schicken die ihn auf eine Mission nach Tunesien, die ihm den Tod bringen soll. Das misslingt jedoch, und er wird angeklagt, Beweise gegen den tatsächlichen Geheimnisverräter manipuliert zu haben. Die Nation ist gespalten, Unterstützer von Dreyfus nehmen öffentlich Position für ihn ein. Darunter befindet sich Emile Zola, dessen offener Brief „J’Accuse“ (Ich klage an!) am 13.1.1898 in der Tageszeitung L’Aurore erscheint. Dreyfus wird ein zweites Mal vor ein Kriegsgericht gestellt und für schuldig befunden. Dann kommt es zu einem Zivilprozess, in dem er, obgleich das Ergebnis wieder schuldig lautet, nach vier Jahren auf der Teufelsinsel begnadigt wird. Der höchste Gerichtshof stellt 1906 seine Unschuld fest.
Rezension
Robert Harris entwickelt in Intrige ein komplexes Bild der französischen Gesellschaft, die eine Affäre wie die um Alfred Dreyfus hervorbringen konnte. Und er erzählt diese im Detail. Kann man davon ausgehen, dass die Affäre und ihr Ausgang noch bekannt sind, dürfte dies für die Details nicht gelten. Intrige ist als historischer Roman eine fiktionale Arbeit, in der manche Dinge geändert wurden. So hat Picquart kein geheimes Dossier über die Affäre geschrieben. Die Dialoge stammen allesamt von Harris, anders als beispielsweise in Romanen von Robert Merle, der viele Dialoge und Aussagen in seinen Romanen historischen Dokumenten entnommen hat. Gleichwohl hält Harris sich weitgehend an die Fakten. Ihm liegt nicht viel daran, wichtige politische Ereignisse Revue passieren zu lassen, und manche streift er nur am Rande. Dreyfus selbst spielt nur eine Nebenrolle. Sein Fall dient dem Anliegen, die Funktionsweise des politischen und juristischen Machtapparates offenzulegen.
Harris folgt der Vorstellung vom historischen Roman, der nicht nur das Verständnis zeitgenössischer Verhältnisse und Entwicklungen spiegeln und fördern soll. Er organisiert und interpretiert Fakten, versucht, ein besseres Verständnis für seine aktuelle Lebenswirklichkeit zu erlangen. Harris beschreibt plausibel, wie Picquart realisiert, dass der Staat, für den er arbeitet und dem er vertraut, korrupt ist und seine Vertreter nur eigene Machtinteressen verfolgen. Picquart befindet sich in der typischen Situation eines heutigen Whistleblowers, wie Julian Assange, Bradley Manning und Edward Snowden. Er muss sich entscheiden zwischen Lüge und Wahrheit, Opportunismus und Unbestechlichkeit, Loyalität zum System oder dem eigenen Gewissen. Am Ende des Romans stellt man fest, dass heutige Geheimdienstaktivitäten wie die der NSA mit umfassenden Informationssammlungen und Abhöraktivitäten unter dem Hinweis auf die nationale Sicherheit nicht neu sind, sondern eine lange Geschichte haben, dass nur die Technologien seit Dreyfus verfeinert wurden. Dazu gehören auch und insbesondere Medien, die sich als vierte Macht im Staate verstehen. Die Dreyfus-Anhänger gewinnen erst an Boden, als die Lecks in Tageszeitungen zunehmen, eine frühe Form dessen, was heute mit dem Begriff WikiLeaks verbunden wird.
Fazit
Als historischer Thriller erzählt Intrige mit Freiheiten die Affäre Dreyfus spannend nach, mit einem Erzähler, der Schuld auf sich geladen hat und sich zum Besseren verändert. Als politischer Roman ist er beklemmend.
Pro und Contra
+ hilfreiches Personenverzeichnis auf drei Seiten
+ historisch-politischer Roman mit hohem Aktualitätsbezug
o manche Leser mögen es seltsam finden, dass eine Geschichte aus der Vergangenheit in der ersten Person Singular Gegenwart erzählt wird, in der es wenig Action gibt, die dadurch dramaturgisch verstärkt werden könnte
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lektüreertrag: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5