Das Mißverständnis (Irène Némirovsky)

nemirovsky missverstaendnis

Knaus, 28.10.2013
Originaltitel: Le malentendu (1926)
Übersetzt aus dem Französischen von Susanne Röckel
Gebunden, 176 Seiten
€ 17,99 [D] | € 18,50 [A] | CHF 25,90
ISBN: 978-3-8135-0467-5

Genre: Belletristik


Inhalt

Yves Harteloup und der Ingenieur Jacques Jessaint sind sich zum ersten Mal während des Ersten Weltkriegs begegnet, als Verletzte im Krankenhaus des belgischen Dorfes Lieuwassin. Sie treffen sich Jahre später im Ferienort Hendaye zufällig wieder, dem Ort, mit dem Yves seine schönsten Erinnerungen verbindet. Yves hat sein Familienvermögen während des Krieges verloren und arbeitet als Angestellter. Jessaint hat es durch eine Erfindung zur Wiedernutzbarmachung von Abgasen aus Industrieanlagen zu Reichtum gebracht, ist mit Denise verheiratet und hat mit ihr die zweieinhalbjährige Tochter Francette. Als Jessaint auf Geschäftsreise geht, verlieben sich Yves und Denise ineinander.


Rezension

Es gibt Literatur, die auf merkwürdige Weise oszilliert zwischen Trivialität und Anspruch, Kitsch und Poesie. Ein solches Buch ist das Debüt von Irène Némirovsky, geschrieben mit 23 Jahren. Die Lektüre beschert wenige Momente klebriger Süße eines banalen Melodrams, und es gibt viele Momente, in denen man den Roman liebt, tiefe Wahrheiten in ihm entdeckt. Mit dem Abschluss der Lektüre lässt sich diese Unentschlossenheit zwar nicht auflösen. Aber etwas wird dann deutlich. Dem Melodram unterlegt ist eine grausam wirkende Mechanik, die ein Räderwerk beschreibt, dem nichts widerstehen kann. Ist die klebrige Süße nur Ausdrucksform des Bemühens der Protagonisten, sich dem Unausweichlichen wenigstens einen Moment zu widersetzen, oder es aus dem Bewusstsein zu verbannen? Die Vorstellung, dem Herzen zu folgen, erweist sich als Wunschkonstrukt, das nicht tragfähig ist, weil die Rationalität auch und vielleicht desto höher wirkt, je mehr man sie leugnet, auszublenden versucht. Man träumt, mitunter verzweifelt, vom großen Gefühl, scheitert aber am Räderwerk des Alltags. Auch eine banale Erkenntnis, aber von der Autorin reizvoll in Szene gesetzt.

Das Mißverständnis bringt zwei Menschen zusammen, an denen sich hervorragend ausführen lässt, wie Liebe konstruiert werden kann und wie sie scheitert, weil die dazu nötige Nähe nicht möglich ist. Yves ist ein Mann in den Dreißigern, der im Ersten Weltkrieg Dinge erlebt hat, die ihm die Rückkehr in seine frühere bürgerliche Existenz verwehren. Der Alltag und seine Mitmenschen erscheinen ihm nichtig und banal. Wer Sterbenden Freunden in die Augen gesehen hat, der kann nichts mehr mit dem Gesäusel des Verliebtseins anfangen. Außerdem ist der frühere Lebemann verarmt und gibt von seinem Einkommen als kleiner Büroangestellter viel für das Sinnlose aus, weshalb für das Wichtige kaum etwas bleibt. Denise ist eine Ehefrau und Mutter, die die Erwartungen ihrer Umwelt erfüllt, verwöhnt und zugleich frustriert und einsam ist. Für sie bedeuten Worte alles, weshalb sie immer wieder Liebesbeweise hören muss. Ökonomische Absicherung, ein liebender Ehemann, schön und gut. Was aber fehlt, ist der Traumprinz, den wir heutzutage Mr. Right nennen. Und wenn er sich nicht zeigt, muss er eben als Illusion erschaffen werden. Die ersten Probleme treten auf, als Yves den Erwartungen Denises nicht gerecht wird. Sie fordert zunehmend von ihm. Er distanziert sich bald von ihr, wenn sie bei ihm ist. Sie fehlt ihm hingegen, wenn sie sich nicht sehen.

Einen Roman von Irène Némirovsky zu lesen, bedeutet fast immer, auf aus ihrem Werk bekannte Themen und Motive zu treffen. Dazu gehören das Interesse der Autorin am Ersten Weltkrieg, an den Spuren, die dieser in Menschen hinterlassen hat, und die Unmöglichkeit der Liebe. Némirovsky steigt unvermittelt in die Handlung ein, eine Exposition gibt es nicht. Sie beschreibt eine Situation wie ein Gemälde, stellt den Brennpunkt auf eine ihrer Hauptfiguren ein und erzeugt Fragen bei den Lesern.


Fazit

Irène Némirovsky erzählt in ihrem Debüt Das Mißverständnis eine Amour fou, die ihrem Wesen nach zum Scheitern verurteilt ist. Denise ist die gelangweilte Gattin eines reichen Mannes, die wenig mehr zu tun hat, als sich um ihr kleines Kind zu kümmern, bis sie auf den Kriegsveteranen Yves trifft, dessen Leben tatsächlich trostlos ist. Ein trauriges Buch von dichter Atmosphäre, das in Komposition und Sprache wie ein Prosagedicht wirkt.


Pro und Contra

+ lässt sich intensiv und hochemotional auf die beiden Hauptfiguren ein
+ ausgerichtet an mit psychologischer Tiefe ausgestatteten Protagonisten

- hat Momente von Banalität und klebriger Süße

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lektüreertrag: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu Pariser Symphonie