Art Skript Phantastik (Juli 2013)
Coverillustration: Oliver Schuck
Taschenbuch, 200 Seiten, 10,50 EUR
ISBN: 978-3981509267
Genre: Dark Fantasy / Mystery
Klappentext
„Ich warf mich der neuen Welt in die Arme und sie lachte mit mir, und in meinem Unwissen merkte ich nicht, wie falsch dieses Lachen klang.“
Ohne Erinnerung erwacht der Student Simon eines Nachts in einer Stadt, in der selbst die Farben ein Eigenleben zu führen scheinen. Von einem Geistermädchen erfährt er mehr: In ihm ist die Gabe des Schläfers erwacht, und seine Aufgabe ist es, die Vampire zu jagen, welche die Stadt bevölkern und das empfindliche Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit stören. Erst, wenn er diese Aufgabe erfüllt hat, darf er in sein altes Leben zurückkehren.
Trunken von den dunkelbunten Wundern der Stadt Dew Linae, fügt sich Simon in sein Schicksal. Doch bald schon muss er erkennen, dass er mehr und mehr seine Identität verliert. An seine Stelle tritt der Schläfer, eine seelenlose Kreatur, die nur im Tod ihrer Gegner Erfüllung findet. Verzweifelt sucht Simon nach einem Weg, sein zweites Ich zu bannen – doch trauen kann er niemandem, nicht einmal sich selbst.
Rezension
Als Simon mitten in der Nacht erwacht, hat sich die Welt verändert: Farben tanzen an seinen Wänden, die Stadt erstrahlt in seltsamen Lichtern und Schaufensterscheiben verflüssigen sich unter seiner Berührung. Er weiß nicht mehr, wer er ist, weiß nicht einmal, ob er ein Mensch ist und was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Er existiert einfach und bewundert eine Welt, die voller Lebendigkeit ist. Doch nach und nach kommen die Gedanken und Fragen. Die naive Bewunderung verschwindet und zurückbleibt tiefe Verwirrung. Ein Geistermädchen klärt Simon schließlich auf und gibt ihm Fragmente seines menschlichen Lebens zurück: Seinen Namen, alltägliches Wissen, kurz gesagt: alles, was er braucht, um in der Welt klarzukommen. Sie offenbart ihm, dass er nun ein Schläfer sei und die einzige Möglichkeit, wieder ein Mensch zu werden, sei es, die Dunkelheit in seiner Stadt zurückzudrängen und Vampire zu töten …
Nach einem surrealen und bunten Einstieg, bei dem sich Simon zurecht fragt, welche Drogen er eingeworfen hat, präsentiert Alessandra Reß eine Vampirgeschichte, wie man sie in groben Zügen schon gelesen hat. Ein Auserwählter mit übermenschlichen Fähigkeiten jagt Vampire, die für ihr Überleben zwar nicht auf Blut angewiesen sind, aber danach gieren. Simon erzählt die Geschichte aus seinen Erinnerungen heraus und zunächst dreht sich der Roman darum, wie er mehr über seine Aufgabe und seine Fähigkeiten herausfindet und schließlich einen Vampir nach dem anderen tötet. Anfangs empfindet Simon noch Mitleid mit seinen Opfern und versucht sogar, seinem Schläferdasein zu entkommen. Doch letztlich bringen ihn die Lichtwesen mit Hilfe manipulierter Erinnerungen zurück auf seinen Weg und Simon wird zu einem erbarmungslosen Vampirkiller.
Was „Vor meiner Ewigkeit“ auszeichnet, ist nicht die Geschichte an sich, sondern viel mehr die Art, wie Alessandra Reß sie erzählt. Simon ist kein attraktiver Held, der sich nach anfänglicher Verwunderung an seine Superkräfte gewöhnt, die Welt rettet und nebenbei noch die Frau seiner Träume trifft. Er ist ein normaler Mensch, der aus seinem Leben herausgerissen wird, um eine Aufgabe zu erfüllen, deren Sinn er kaum begreifen kann. Er wird zu einem Zwischenwesen und gleichzeitig zu einem Werkzeug gemacht, das zwar mit der physischen Welt interagieren kann, aber sich mehr wie ein Geist durch sie bewegt. Andere Menschen nehmen ihn nur peripher wahr, die meisten sehen ihn nicht und die, die ein Gespür für die geistige Welt haben, reagieren meist verwirrt. Simon führt seinen Kampf isoliert von der Menschheit und verliert sich selbst in seinen Morden an den Vampiren, die ihm im Augenblick ihres Todes einen Teil ihres Lebens zeigen.
Für die Nebencharaktere bleibt dabei leider wenig Raum zur Entfaltung. Sie scheinen mehr ein Mittel zum Zweck zu sein und Simon auf seinem Weg zu halten. Neben vielen anonymen Toten lernt man jene von Simons Opfern näherkennen, die etwas in ihm verändern. Auch das Geistermädchen, das Simon in sein neues Dasein einführt, bleibt blass – obwohl sie eine der wichtigsten Figuren ist. Sie gibt wenig von sich preis und bleibt damit für Simon und den Leser schwer greifbar. Alessandra Reß macht dies jedoch mit gelungenen Überraschungen im Storyverlauf und einem beklemmenden Finale wett. Auch wenn der Roman insgesamt eher actionarm ist, gelingt es der Autorin, die Spannung konstant hoch zu halten. Das liegt vor allem daran, dass man als Leser mit Simon gemeinsam seine neue Welt entdeckt und fasziniert zuschaut, wie der Schläfer den einst menschlichen Simon verdrängt – und wie dieser menschliche Teil versucht, sich zurück ins Leben zu kämpfen.
Auch die Kampfszenen konzentrieren sich weniger auf Action als viel mehr auf die Erinnerungen der Vampire und Simons Erleben, während er diese aufnimmt. Simons Weg wird dabei zunehmend grauer, während er sich in verschiedene Persönlichkeiten aufspaltet. In den vampirmordenden Schläfer, in einen Besessenen und in den letzten Rest des einst menschlichen Simons. „Vor meiner Ewigkeit“ ist zwar vordergründig ein Vampirroman, doch vor allem handelt er von den Graustufen zwischen Licht und Dunkelheit und dem Zerfall eines Helden, der sich an seine Geschichte mit Wehmut und kritischem Blick erinnert. Zwischenzeitlich fragt man sich, warum ausgerechnet Vampire die Dunkelheit der Welt symbolisieren, doch je weiter man liest, desto passender erscheinen die melancholischen Wesen der Nacht. Ähnlich wie bei Anne Rice erreichen die Vampire irgendwann eine Phase der Lethargie, in der ihnen die Unsterblichkeit nichts mehr gibt. „Vor meiner Ewigkeit“ bietet daher weniger eine romantische Betrachtung der Vampire, sondern eine philosophische.
Alessandra Reß beschreibt die geistige Welt, zu der Simon Zutritt erhalten hat, anfangs sehr atmosphärisch. Auch zwischendrin flackern immer wieder stimmungsvolle Beschreibungen auf und die Wandlung der Welt geht einher mit Simons innerer Wandlung. Doch gerade weil diese geistige Welt so seltsam und befremdend ist, hätte die Autorin sie noch etwas konsequenter ausbauen müssen. Je mehr in einer Szene passiert, desto normaler wirkt die Zwischenwelt, weil kaum Zeit bleibt, um auf die Außergewöhnlichkeit aufmerksam zu machen. Da die Welt, die Alessandra Reß zeichnet, so bunt und bizarr ist, braucht es für den Durchschnittsleser immer wieder konkrete Bilder, um die Vorstellung aufrecht zu erhalten. Nichtsdestotrotz kann man sich weite Teile des Romans in der surrealen Atmosphäre verlieren.
Das Cover von Oliver Schuck fängt die Stimmung des Romans gekonnt ein. Insbesondere der Blick des abgebildeten Mannes, den man sich problemlos als Simon vorstellen kann, spiegelt die Tiefe des Romans. Das Taschenbuch sieht dabei nicht nur gut aus, es ist auch gut verarbeitet und zu einem guten Preis zu haben.
Fazit
„Vor meiner Ewigkeit“ beeindruckt abseits des Mainstreams mit seiner surrealen Atmosphäre und einem gebrochenen Helden, der sich im Glanz seiner Macht und in den Leben der Vampire, die er tötet, verliert. Die Geschichte wird dabei von Simon selbst mit kritischem Blick erzählt, wobei die Spannung auf seiner inneren Wandlung aufbaut. Ein außergewöhnlicher Vampirroman, der zwar auch romantischer, aber vor allem philosophischer Natur ist – bildgewaltig, nachdenklich und anders.
Pro & Contra
+ surreale Atmosphäre
+ innere Wandlung des Protagonisten
+ ungewöhnliche Erzählweise
+ viele Graustufen zwischen bunten Farben
+ eigentümliche Spannung
+ stimmungsvolles Cover
o viele philosophische Spielereien
o Fantasynamen für Städte und Länder
- blasse Nebencharaktere
Wertung:
Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
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