Himmel über London (Håkan Nesser)

nesser himmel

btb, 11.11.2013
Originaltitel: Himmel över London (2011)
Übersetzt von Christel Hildebrandt
Gebunden, 571 Seiten
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-442-75318-5

Genre: Belletristik


Inhalt

London 2010: Der Multimillionär Leonard Vermin reist mit seiner Lebensgefährtin, der amerikanischen Psychologin Maud Miller, nach London, um dort in wenigen Tagen seinen siebzigsten Geburtstag zu feiern. Eingeladen sind auch Mauds Kinder aus erster Ehe, die neurotische Irina und der ständig an Geldmangel leidende Gregorius. Leonard hat die Feier selbst organisiert und macht ein großes Geheimnis daraus, in welchem Restaurant sie stattfinden soll und wer die beiden Unbekannten sind, die er eingeladen hat. Maud sorgt sich, denn Leonard hat Krebs und nicht mehr lange zu leben. Er verschwindet oft aus dem Hotel, nimmt seine Medikamente nicht und wirkt immer verwirrter. Leonard hat merkwürdige Träume, die ihn an seiner Identität zweifeln lassen. Irina wird mit  ihrer düsteren Vergangenheit konfrontiert und macht eine Erfahrung, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Gregorius erhält eine unangenehme Nachricht, die bei ihm Mordgedanken aufkommen lässt. Der unbekannte Gast trifft in London ein, sieht seine Exgeliebte wieder und schafft sich einen tödlichen Feind.

Leonard weiß, dass dies sein letzter Geburtstag ist. Heimlich sucht er den Notar Prendergast auf, der ihm bei der Nachlassregelung hilft und den er aus seinen Londoner Jahren kennt. Diese Zeit von 1965 bis 1975 war für ihn die wichtigste seines Lebens. Damals legte er den Grundstock für sein Millionenvermögen, vor allem lernte er im September 1968 Clara aus Prag kennen, die als Dolmetscherin und Spionin für die tschechische Botschaft arbeitete und im Widerstand war. Sie begannen eine leidenschaftliche Affäre, Leonard ließ sich in ihre Spionageaktivitäten hineinziehen. In den Tagen vor seinem Geburtstag erinnert sich Leonard an diese große Liebe, deren Geschichte er in einem Notizbuch niedergeschrieben hat. Über London braut sich in mehrfacher Hinsicht ein schweres Gewitter zusammen. Und zur gleichen Zeit geht ein Serienmörder in der Metropole um, den die Presse den „Watch Killer“ nennt, weil er bei seinen Opfern eine kaputte Uhr zurücklässt.


Rezension

Himmel über London erzählt eine düstere Spionagegeschichte zur Zeit des Kalten Krieges im London der Swinging Sixties: konspirative Treffen, kryptische Nachrichten, Aktentaschen wechseln den Besitzer, Listen mit geheimen Fotos kursieren, Personen werden quer durch London beschattet, es gibt Verrat, Verhaftung und einen Mord im Holland Park. All das bietet den Hintergrund und das Bindemittel einer tragischen Liebesgeschichte zwischen einer Spionin und dem Protagonisten, der im ungewissen darüber ist, ob er seiner Geliebten trauen kann und welche Rolle er überhaupt in ihrem Leben und der ganzen Geschichte spielt. Leonard führt ein Leben wie in einem Spionagethriller von John Le Carré, noch dazu in London, einem Sehnsuchtsort im Kosmos der Nesser-Figuren.

Erzählt wird diese Geschichte rückblickend aus der Perspektive des älteren Leonard, den ein Geheimnis aus dieser Vergangenheit umgibt. Auch die anderen Figuren haben etwas zu verbergen. Nach und nach wird ihre Biografie erzählt und ihr Geheimnis enthüllt. Während ihrer Zeit in London werden sie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und mit merkwürdigen, unerklärlichen, skurrilen und absurden Ereignissen konfrontiert. Irina fällt ein Buch in die Hände, in dem sie ihre eigene Geschichte liest. Ist das Ausdruck von Wahnsinn oder Demenz? Doch die Antwort ist nicht so einfach. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein Fremder namens Lars Gustav Selén, der sich in ihr Leben und ihre Träume drängt. Wer ist dieser Selén?

Nach ungefähr der Hälfte des Romans beginnt eine ganz andere Geschichte und der Leser erfährt mehr über Lars Gustav Selén, obwohl an ihm anscheinend nichts wissenswert ist. Denn Selén ist wie Nessers Ante Valdemar Roos aus Eine ganz andere Geschichte der Prototyp des Langweilers, ein frühpensionierter Taxifahrer von 59 Jahren aus dem schwedischen Ort K., alleinstehend und ohne Bindungen, dessen Erwachsenenleben belanglos und ereignislos vor sich hinplätschert. Doch es gibt zwei Dinge in seiner Kindheit und Jugend, die maßgeblich sein Leben als Erwachsener beeinflussen. Sein verstorbener Vater war ein begnadeter Lügner, dessen Geschichten Selén geglaubt und seinen Mitschülern weitererzählt hat. Und im letzten Schuljahr verliebte er sich in das schönste Mädchen der Schule, eine zarte Romanze bahnte sich an. Trotz seines Alleinseins fühlt sich Selén nicht einsam, denn er liest und schreibt viel. Die Figuren aus Anna Karenina sagen ihm mehr als seine Exkollegen. Selén führt ein Doppelleben, das untrennbar verbunden ist mit Leonard, Maud, Gregorius und Irina.

Himmel über London beginnt als klassischer Spionageroman, ändert den Modus mit einigen surreal anmutenden Momenten und überrascht den Leser, indem er einen unerwarteten Kurs einschlägt, auf dem er sich Paul Austers Mann im Dunkel annähert. Was anfangs für Irritationen und Unverständnis sorgen mag, stellt sich später als gut durchdachtes Konstrukt heraus, als eine zweite Ebene, in der es um die dünne Wand zwischen Wahrheit und Fiktion geht, die Bedeutung von Literatur, das Spielen von Rollen und Erzählen von Geschichten. Einen frühen Hinweis darauf liefern Leonards Besuche im Antiquariat Bramstoke and Partners, wo er hinter Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung kryptische Nachrichten findet, die er mit Hilfe des vierten Bandes von Leibniz’ Gesammelte Werke dechiffriert. Weitere Hinweise sind die zahlreichen literarischen Bezüge. So erinnert der Antiquar an eine Figur von Dickens, Leonard jobbt bei Foyle’s, Gregorius lernt einen Hund namens Fingal kennen.


Fazit

Ein spannender, rätselhafter und vielschichtiger Roman, vordergründig ein Spionageroman und Psychothriller, auf einer weiteren Ebene eine tiefgründige Betrachtung über die Grenze zwischen Fiktion und Wahrheit, die menschliche Wahrnehmung und das menschliche Bewusstsein.


Pro und Contra

+ langsam und sorgfältig erzählte, packende Spionagegeschichte vor historischem Hintergrund
+ psychologisch stimmige, lebendige Charaktere
+ von großer Intensität und atmosphärischer Dichte
+ brillant und stilsicher erzählt 
+ anspruchsvoller, über sich selbst hinausweisender Roman

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: London, Håkan Nesser, schwedischer Roman, Spionage, Kalter Krieg, Swinging Sixties, Schopenhauer, Leibniz, philosophischer Roman