Rezension der englischen Originalausgabe.
Erscheinungsdatum der deutschen Übersetzung: 28.Mai 2014
Arrow Books 2014
TB 338 S., 8.99 ₤
ISBN 978-0-09-958498-8
Genre: Krimi
Die Autorin
Donna Leon wurde 1942 in New Jersey geboren. Mit 23 Jahren ging sie zum Weiterstudium nach Perugia und Siena. Sie arbeitete als Reiseleiterin in Rom, als Werbetexterin in London und als Lehrerin an amerikanischen Schulen in der Schweiz, Saudi-Arabien, dem Iran und China. Seit 1981 lebt und arbeitet Donna Leon in Venedig. Die Times nannte sie eine der 50 größten Kriminalautoren. Ihre Bücher werden in 35 Sprachen übersetzt und weltweit veröffentlicht. Ihre Kriminalromane um den venezianischen Commissario Guido Brunetti sind vielfach ausgezeichnete Beststeller und wurden zum Großteil verfilmt.
Rezension
Der taubstumme, geistig zurückgebliebene Davide Cavanella wird tot in seinem Bett in San Polo gefunden, eine leere Flasche Schlaftabletten deutet zunächst auf Selbstmord. Ein tragischer Unfall, so die Diagnose des peniblen Pathologen Dottor Rizzardi. Davide muss die bunten Pillen seiner Mutter mit Bonbons verwechselt haben. Der bittere Geschmack wurde von der Schokolade und den Keksen überdeckt, die er dazu getrunken und gegessen hat. Die Sache scheint klar. Es gibt keinen Fall für Brunetti. Doch Brunettis Frau Paola möchte mehr wissen, aus Mitgefühl für Davide und seine Familie, denn sie kennt Davide seit vielen Jahren vom Sehen aus der Reinigung, wo sie Kundin ist.
Davide lebte allein mit seiner Mutter Ana. Sie war es auch, die ihn fand und Hilfe holte. Im Gespräch mit Brunetti verwickelt sie sich in Widersprüche. Anscheinend hat sie etwas zu verbergen. Auch die Leute im Viertel schweigen, sobald die Rede auf Ana und Davide kommt. Sie bedauern oder verachten Ana aus unerfindlichen Gründen. Die Sache wird noch mysteriöser, als sich auf Brunettis Betreiben Chefsekretärin Signorina Elettra Zorzi in die Datenbanken der lokalen Behörden hackt und nichts findet. Davide hat keinen Ausweis, bezahlt keine Steuern, er ist nicht einmal gemeldet, hat keine Schule besucht, ist nie bei einem Arzt oder im Krankenhaus gewesen und seine Mutter hat nie staatliche Leistungen für ihn beantragt. Es ist, als habe er nie existiert. Wer war Davide wirklich? Was steckt hinter der ganzen Geheimniskrämerei? Eine Polizeiakte von 1968 über Ana Cavanella führt Brunetti weiter. Mit sechzehn Jahren wurde Ana beim Diebstahl erwischt. Damals lebte und arbeitete sie im Palazzo der reichen Unternehmerfamilie Lembo.
The Golden Egg ist Donna Leons 22. Roman um Commissario Guido Brunetti aus Venedig, der diesmal in einem Fall ermittelt, der keiner zu sein scheint. Bis Brunetti in der Vergangenheit von Ana und der Familie Lembo zu graben beginnt. Daneben muss er sich mit drei Problemen befassen. Für seinen Vorgesetzten, Vice-Questore Patta, soll er herausfinden, ob der Bürgermeister Schwierigkeiten bei der anstehenden Neuwahl bekommen könnte, weil die Verlobte seines Sohnes keine Steuern an die Vigili Urbani für die Tische zahlt, die sie auf dem Campo vor ihrem Ladengeschäft aufbaut. Signorina Elettra soll ihr Büro an Pattas direkten Mitarbeiter Leutnant Scarpa abtreten. Polizeibootfahrer Foa möchte der Guardia Costiera im Kampf gegen illegale Einwanderer und Zigarettenschmuggler aus Albanien und Kroatien mit seiner ausgezeichneten Kenntnis der Küste Venedigs helfen, doch Scarpa hat die Anfrage der Guardia Costiera abgelehnt.
Auf der Suche nach Lösungen für diese so unterschiedlichen Probleme mäandert Brunetti durch die gesellschaftlichen Komplexitäten Venedigs, die ethischen Untiefen und den moralischen Morast. Dabei stolpert er über seine eigenen Vorurteile gegenüber den Menschen aus Süditalien, insbesondere den Neapolitanern, und macht sich Gedanken darüber, wie weit ein Polizist den Bürger durch gespielte Anteilnahme täuschen darf und welche Folgen eine Entdeckung von Signorina Elettras Hackeraktivitäten haben kann. Er versteht das Misstrauen der Bürger gegenüber der Polizei, misstraut er ihr doch selbst, allen Behördenvertretern und nicht zuletzt der politischen Kaste.
Weit mehr als für Leichen und spektakuläre Morde interessiert sich Donna Leon für die Natur des Menschen, die psychologischen Verstrickungen ihrer Figuren, ganz normalen Menschen, für die Gründe und Mechanismen, die zu den Dramen des Alltags führen. Ein schon beinahe typisches Motiv bei Leon ist Geldgier und das spielt auch in The Golden Egg eine große Rolle. Commissario Brunetti, sympathisch, intelligent und human, wird einmal mehr angesichts der Schlechtigkeit des Menschen von einem moralischen Kater erfasst. Seine Gegenmittel sind seine Familie, Ehefrau Paolo, die Kinder Raffi und Chiara, sowie seine geliebten Klassiker, vor allem Tacitus. Der studierte Jurist Brunetti lässt sich nicht von Gesetzen und Vorschriften leiten, sein GPS sind vielmehr Moral, Ethik und Logik, und das hilft ihm auch, als er die Wahrheit herausfindet.
Fazit
Donna Leon hat mit ihrem 22. Brunetti eine Mystery-Geschichte veröffentlicht, die getragen wird von interessanten Akteuren und einem plausiblen Plot, der die Tiefendimension von Gier und Charakter auslotet.
Pro und Contra
+ die morbide Atmosphäre Venedigs verbindet sich mit der moralischen Katerstimmung des Protagonisten; die düstere Stimmung wird kontrastiert mit feiner Ironie
+ subtil, komplex und intelligent, die Story entfaltet sich langsam und unspektakulär und der Fall wird beinahe unmerklich gelöst
+ eleganter Erzählstil, mit vielen Verweisen auf Sprache als Kulturgut und Mittel der Kommunikation und Rhetorik
+ der Leser erhält Einblick in die venezianische Gesellschaft und aktuelle Probleme der Stadt und des Landes durch eine Autorin, die zwar nicht aus Venedig stammt, aber seit dreißig Jahren dort lebt
- die Eltern Paolas und Guidos könnten mal wieder in einem Brunetti mitspielen
Wertung:
Handlung 4/5
Charaktere 4/5
Lesespaß 4/5
Preis/Leistung: 4/5
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