Der Garten der Dissidenten (Jonathan Lethem)

lethem garten

Tropen Verlag 2014
Originaltitel: Dissident Gardens (2013)
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach
Gebunden, 476 Seiten
€ 24,95 [D] | € 25,70 [A] | CHF 35,90
ISBN: 978-3-608-50116-2

Genre: Belletristik


Rezension

Der Garten der Dissidenten erzählt die Geschichte der jüdischen US-Immigrantin Rose Zimmer und ihrer Familie. Die Handlung setzt in 1955 ein, als Rose, die in Sunnyside Gardens in New York lebt, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie eine sexuelle Beziehung zu dem schwarzen Polizisten Douglas Lookins unterhält. Rose ist verheiratet mit Albert, den die Partei in die DDR verbannt hat. Gemeinsam haben sie die Tochter Miriam, die ihren Vater nicht kennt und ihre Mutter sowie den Marxismus ablehnt. In Greenwich Village lernt Miriam den Musiker Tommy Gogan kennen, Sohn irischer Einwanderer, den sie heiratet, mit dem sie ein Kind bekommt und nach Nicaragua geht, um die Sandinisten zu unterstützen. Rose kümmert sich um Cicero Lookins, den schwulen Sohn ihres früheren Liebhabers. Cicero studiert und beschäftigt sich mit Kritischer Theorie. Es folgen noch weitere Beziehungen und Kinder bis hin zu Sergius, Miriams Sohn.

Der Garten der Dissidenten besteht aus vier Teilen mit jeweils vier Kapiteln. Als politischer Roman beschäftigt er sich mit den amerikanischen Kommunisten, der Hippiebewegung, New Age, der Revolution in Nicaragua und den Entwicklungen, die zur Occupy-Bewegung geführt haben. Er behandelt die Radikalisierung jüdischer Einwanderer in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Baseball in Queens und dessen politisch motivierte Entwicklungslinie, den Zusammenhang und die Konflikte von Rassen und Klassen, Münzkunde, die Quäker, AIDS, das US-Engagement in Lateinamerika, die CIA, den Kalten Krieg, den Zusammenbruch des Ostblocks und die Stasiakten nach 1989. Die Zeitebenen werden vermischt, im Regelfall übergangslos. Oft erfährt man nur durch eingestreute Hinweise wie die Klimaproblematik, einen Prius, einen Songtitel von Bob Dylan oder anderen Musikern, wo man sich zeitlich gerade befindet.

Zugleich handelt es sich um einen Familienroman, der in manchen Feuilletonbeiträgen als amerikanischer Buddenbrooks bezeichnet wird, was darauf zurückführbar sein mag, dass Lethem selbst zu diesem Vergleich auffordert, indem er Thomas Mann, Lübeck und die Buddenbrooks im Roman mehrfach anspricht. Roses Ehemann Albert ist im Haus neben dem der Buddenbrooks aufgewachsen. Beide Romane beschreiben den Verfall einer Familie. Der Garten der Dissidenten erzählt vom Schicksal dreier Generationen der Familie Roses und der Menschen, die sich im Umkreis dieser Familie als Eheleute, Geliebte oder Freunde aufhalten. Rose befindet sich im Zentrum der Erzählung. Sie wird durch ihren Parteiausschluss, der auch sexuell motiviert ist, traumatisiert und trägt dies irgendwann nach Außen wie eine Kriegsverletzung. Ihre Tochter Miriam ist eine Vertreterin der Neuen Linken in den USA. Sie heiratet einen Folksänger, der zum Protestsänger wird, und zieht mit ihm in eine Kommune.

Ähnlich Jeffrey Eugenides in seinem Roman Die Liebeshandlung verbindet Lethem Studenten, New Wave und Guerilla in Lateinamerika mit Ausflügen in die Kritische Theorie. Als Cicero Professor ist, hält er ein Seminar mit dem Titel “Ekel und Nähe” ab, in dem er zuerst seine Studenten als Geisteswesen pulverisiert und anschließend in einem Monolog über sich und seine Mutter den intellektuellen Selbstzerstörungsmodus aktiviert. Der Roman enthält mehrere Szenen, die ähnlich irritierend und alptraumhaft sind wie diese. Lethem seziert in dieser Szene die akademische Lehre als ein Konsumangebot, das von den Studenten angenommen wird oder nicht, nach Kriterien, die unklar bleiben. Seminarteilnehmer verlassen den Raum, während Cicero darüber nachdenkt, ob er sie in der Veranstaltung noch einmal sehen wird. Interessant ist hier der Kontext der Kritischen Theorie, weil er Fragen aufwirft wie: Was kann es bedeuten, Theoretiker zu lesen? Wie kann Kritische Theorie auf die Persönlichkeit eines Menschen wirken, auf seine Fähigkeit, sich in ein Verhältnis zu seiner Lebenswirklichkeit zu setzen?

Die Menschen in Lethems Roman sind einsam, ihre Beziehungen sind bestimmt durch Einbildungen und Lügen, egal, ob sie sich persönlich oder gesellschaftspolitisch engagieren oder nicht. Der Ton des Romans ist dunkel, trotz mancher komischer Szenen ist die Erzählung sehr ernsthaft. Durch die Szenenmontage und die episodische Struktur wirkt Der Garten der Dissidenten statisch und liest sich wie eine Sammlung verbundener Kurzgeschichten. Emotional hält sich Lethem zurück, um nicht zu sagen, die Geschichte wird unterkühlt erzählt. (Andere Leser mögen diese erzählerische Qualität als eine Form von Empathie interpretieren.) Es wird deutlich, wie sehr der 11. September 2001 die USA und die Menschen verändert hat und wie wenig Ideologien zur Gestaltung eines glücklichen Lebens beitragen können.


Fazit

Jonathan Lethem hat mit Der Garten der Dissidenten einen inhaltsreichen und komplex konstruierten Roman um Radikalität und den Versuch der Selbsterneuerung im Bruch mit der Vergangenheit geschrieben, der in Verdichtung kulturelle Randströmungen und darin befindliche Menschen abarbeitet.


Pro und Contra

+ tiefgründiger politischer Roman
+ variiert Philip Roths Der menschliche Makel auf ansprechende Weise

o mehr ein in die Breite gehendes Kompendium als eine sehr gut erzählte Geschichte wie z.B. in Motherless Brooklyn - Erzähl deine Geschichte im Gehen

Wertung:sterne4

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Motherless Brooklyn - Erzähl deine Geschichte im Gehen"