Herzgewächse oder Der Fall Adams (Hans Wollschläger)

wollschlaeger herzgewaechse

Wallstein Verlag 2011
Leinen, 544 Seiten
€ 38 [D] | € 39,10 [A] | CHF 50,90
ISBN: 978-3-8353-058-6

Genre: Belletristik


Rezension

Der Schriftsteller und Emigrant Felix Adams kehrt Anfang 1950 in seine Heimatstadt Bamberg zurück und wohnt in dem Zimmer zur Miete, in dem er seine Jugend verbrachte. Er hofft, in dem Land, aus dem er vor Hitler geflohen war, in das Leben zurückfinden zu können. Er führt ein Tagebuch, in dem er sich selbst, seinen Alltag und seine Vergangenheit reflektiert.

Hans Wollschläger (1935-2007) ist bekannt geworden als Übersetzer von James Joyce und Edgar Allan Poe, Dashiell Hammett und Raymond Chandler und als Essayist. Herzgewächse oder Der Fall Adams ist sein einziger Roman. Erstveröffentlicht wurde er 1982 beim Züricher Verlag Haffmanns. Zwei Bände waren beabsichtigt, es blieb bei einem und einem Kapitel des zweiten, weil sein Verfasser am 19.05.2007 in Bamberg starb.

Der Langtitel: Herzgewächse oder Der Fall Adams. Fragmentarische Biographik in unzufälligen Makulaturblättern. erinnert an E.T.A. Hoffmann und dessen Romanfragment Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Die erweiterte Herausgeberfiktion als romantische Form findet sich auch in Herzgewächse oder Der Fall Adams. Hans Wollschläger ist der Autor und wird von Adams im Text namentlich genannt. Unter dem Kürzel W ist er Schüler von Adams, unter den Initialen HW fungiert er als der fiktiver Herausgeber des Manuskripts.

Versteckt im Text sind eine Reflektion des Fauststoffes und eine Detektivgeschichte. Er ist neben vielen anderen durchsetzt mit Anspielungen auf, um nur wenige Namen zu nennen, Thomas Mann, Sigmund Freud, Gustav Mahler und Karl May. Bereits das erste Wort in Wollschlägers Roman: „Ussul“ bezeichnet ein fiktives Volk in Mays 1909 publiziertem zweibändigen Spätwerk Ardistan und Dschinnistan. Wollschläger veröffentlichte 1965 die erste Biografie über Karl May (Karl May. Grundriss eines gebrochenen Lebens).

Weiter findet sich ein breites Spektrum an Reflektionen, Aufzeichnungen, Gedanken und Gesprächen beziehungsweise Gesprächsfetzen, so über Politik, den Preis einer Regierung, Nazis im Nachkriegsdeutschland, die Conditio Humana, ein Mittel zur Prophylaxe und Therapie von Infektionen. Wollschläger arbeitet mit typografischen Veränderungen, bringt über wechselnde Schriftgrößen Wellenmuster in den Text, die an die Dynamik, gleitende und abrupte Veränderungen der Lautstärke von Musikstücken, erinnern, vielleicht auch an die Visualisierung eines EKG.

„ich : habe doch ein EKG machen lassen : und dem Arzt die gewohnte Kränkung zugefügt, indem ich ihm die Streifen einfach aus der Hand nahm und mich nur kurz bedankte – noch ehe er mit seinem feierlichen Mienenspiel beginnen konnte“ (S.127)

Wollschläger schafft syntaktische Strukturen durch Satzzeichen, die einer anderen Logik folgen als den Interpunktionsregeln der Dudenredaktion. Teilweise arbeitet er mit einer lautmalerischen Orthographie. Der Doppelpunkt erscheint mitten im Satz, nicht willkürlich, sondern rhythmisierend, Gedanken einleitend, unterbrechend und abschließend, die sich zu einem komplexeren Ganzen fügen. Die Verwendung des Gedankenstrichs scheint überwiegend einem Satz dort eine Pause zu geben, wo der Sprechende oder Schreibende im Denken pausiert. Auffallend sind Diskontinuitäten, narrative Linien werden dicker, dünner, laufen aus, werden mit einer Rissstelle fortgesetzt, die Form spiegelt offenbar das Denken Adams’. Es ergeben sich vielfältige Fragmentierungen, und es mag durchaus gemutmaßt werden, dass, hätte Wollschläger den Roman beenden können, er dennoch in das Fragmentarische ausgelaufen wäre.

Erzählt wird in der Ich-Form. Wir merken bald, dass Adams eine isolierte Person ist, in der Gegenwart und Vergangenheit als Erinnerung wirken und den Zerfall des Individuums herbeiführen. Wollschläger beginnt oft im Verlauf eines Satzes, wechselt innerhalb eines Satzes die Perspektive, schaltet um auf Gedankenströme. Dieses Vorgehen korrespondiert  mit der Entwicklung des Tagebuchschreibers, der langsam psychisch zerfällt, einer Persönlichkeit, die an der Liebe, seinen Mitmenschen und nicht zuletzt sich selbst scheitert. Wollschläger entwickelt Ideen, Traumbilder, legt psychische Tiefenschichten offen, führt einen Diskurs auch über Paranoia, freien Willen und Schicksal, Geschichte und Leben als Wiederholung.


Fazit

Hans Wollschlägers Fragment gebliebener einziger Roman ist ein intellektuell herausforderndes literarisches Experiment. Kein Kopfkino, das Bilder beim Lesen erzeugt, eher ein kompositorisches Werk, das sich wie ein Musikstück „lesen“ lässt. Ein sehr anspielungsreiches Buch, dem mit einmaliger Lektüre nicht beizukommen ist.


Pro und Kontra

+ beeindruckende Fiktion über psychischen und seelischen Zerfall
+ kreative und stimulierende Sprachkomposition

Wertung: sterne4.5
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lektüreertrag: 5/5
Preis/Leistung: 4/5