Liebes Leben (Alice Munro)

munro leben

Fischer, 03.12.2013
Originaltitel: Dear Life (2012)
Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Zerning
Gebunden, 368 Seiten
€ 21,99 [D] | € 22,70 [A] | CHF 32,90
ISBN: 978-3-10-048832-9

Genre: Belletristik


Rezension

Im Lauf der letzten Jahre sind die Erzählungen von Alice Munro kürzer geworden, haben seltener die Textur von auf vierzig bis sechzig Seiten verdichteten Romanen. In Liebes Leben wohnt ihnen bisweilen etwas von Fragmenten inne (Amundsen, Stolz und Heimstatt). In einigen Geschichten erzeugt Munro Abweichungen oder Umkehrungen, die überraschend kommen. Ein heimkehrender Soldat springt vom Zug, kurz bevor er den Bahnhof erreicht, auf dem seine Verlobte, von der er lange getrennt war, ihn erwartet (Zug). Munro liefert dafür erst am Ende, wenn man nicht mehr an diese Szene denkt, eine Begründung. Die Affäre zwischen einer reichen Exzentrikerin und einem verheirateten Architekten (Corrie) steuert auf eine erschütternde Offenbarung zu. Die Trennung scheint nahe liegend, aber Corrie erfährt die schlimme Wahrheit über die Affäre und reagiert überraschend. Eine junge Frau tritt in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke im Hinterland von Toronto eine Stelle als Lehrerin an (Amundsen). Sie verliebt sich in den viel älteren Arzt, der nicht zu ihr passt und Konventionen hasst, sich aber dennoch mit ihr verlobt.

In den meisten Erzählungen befasst sich Munro mit Themen und Problemen, an denen Schriftsteller und Verlage oft genug kein Interesse zeigen. Sie schreibt schöne und traurige Geschichten über das Alter. Eine Frau ist dem Grauen der Demenz ausgesetzt (Mit Seeblick), eine 71-jährige Frau glaubt, ihr 83-jähriger Mann wolle sie wegen einer Kosmetikvertreterin verlassen, die sich als Liebe aus einer weit zurückliegenden Zeit erweist (Dolly).

Eine Überraschung, auch für stetige Leser und Leserinnen der Bücher Alice Munros, sind die vier letzten Geschichten, die Munro in einer Vorbemerkung als „vom Gefühl her autobiographisch“ bezeichnet. Ihr Verfahren ist hier jedoch nicht konsequent, sondern sie mischt Fiktionales in die Autobiographie. Obgleich die vier Texte den Charakter von Memoiren haben, präsentiert Munro sie mit dramatischen Personen und Handlungen, weshalb man sich durchgehend in Erzählungen wähnt. Auf diese Weise macht sie sich selbst zu einer fiktionalen Figur. Kurz: Munro vergisst beim Erzählen der Wahrheit nicht das Erzählen. In Nacht erinnert sie sich daran, wie ihr als vierzehnjährigem Mädchen während einer Blinddarmoperation ein Tumor, groß wie ein Putenei, entfernt wurde, worüber ihr nichts weiter gesagt wurde. Solche Dinge waren in der erzählten Zeit kein Gesprächsstoff. Sie schreibt über den Tod Sadies, der Haushaltshilfe bei den Munros nach der Geburt des jüngeren Bruders von Alice (Das Auge).

Die Erzählungen geben einen emotionslosen Einblick in das Alltagsgrauen, mit einem unverstellten, vielleicht reinen Beobachterblick. In ihrer Kürze bekommen Munros Texte eine größere Unmittelbarkeit in der Wirkung. Munro verwendet Mittel der Komik, um zu zeigen, wie sich in der Nachkriegszeit Sitten und Rollenmodelle verändert haben. Ihr Personal gerät in Situationen, die beim Lesen nichts Fiktionales an sich haben. Die Geschehnisse und Figuren wirken eher alltäglich. Sie werden zu etwas Besonderem durch die makellosen und eleganten Sätze ihrer Schöpferin. Das Leben spielt sich in den kleinen, oft banalen alltäglichen Zusammenhängen ab, in einem Hotel, in der Einsamkeit des Privatraumes, in den Kinderjahren und Momenten der Angst in schlaflosen Nächten, im Alter und der Angst vor dem Ich-Verlust in der Demenz. Es sind nicht immer die großen, sondern oft genug diese kleinen Dinge, die bei Munro die Biographie einer Figur bestimmen.

Wenn die Figuren an ihr früheres Leben zurückdenken, dann nicht in Gestalt großer Oper, sondern kleiner, für andere Menschen vollkommen unwichtiger Momente. Das Schöne wie das Hässliche und das Schmerzhafte sickert entweder unspektakulär langsam in den Alltag hinein oder kommt ohne Ankündigung mit einem Schlag. Mitunter ist es schon wieder vorbei, bevor man es richtig wahrgenommen hat, aber dennoch hinterlässt es Spuren und verändert manchmal auch den Kurs des Lebens (Abschied von Maverley), zerstört Erwartungen (Amundsen, Kies).

Wie wir wurden, was wir sind: wir wissen es gar nicht, und wenn wir dennoch davon erzählen, dann allenfalls in Erinnerungen, die Geschichten sind. Wir nehmen die Alltäglichkeiten nicht immer wahr, die unser Leben formen und verändern. Die Essenz eines solchen Lebens fasst Alice Munro auf unvergleichliche Weise in Kurzgeschichten, in denen sie die kleinen Momente illuminiert, die kleine oder große Veränderungen bewirken.

Die Titelgeschichte endet mit den Worten: „Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind oder dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.“


Fazit

Alice Munro richtet in ihrer Erzählungssammlung Liebes Leben ihren Blick auf alltägliche Ereignisse und ruhige Momente, auf Menschen, die ein privates Leben führen und keine Aufmerksamkeit erregen.


Pro und Kontra

+ unterkühlt vorgetragene Geschichten von subtiler Schönheit

Wertung: sterne5
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5