dtv (Juni 2014)
Broschiert, 448 Seiten
ISBN: 978-3423260213
€ 16,90 [D]
Genre: Thriller / Krimi
Klappentext
Ein Mann auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau. Er begibt sich auf eine Odyssee, die ihn quer durch Nordamerika führt und zu seiner eigenen erschütternden Geschichte. Von seiner Reise erzählen Tiere. Sie sind die Zeugen des menschlichen Dramas. Ein gewaltiges Epos, ein unvergesslicher Thriller, voller Furore und Poesie – abgründig und einzigartig.
Rezension
Wahsch Dibsch kommt nach Hause und findet seine Frau bestialisch ermordet im Wohnzimmer liegen. Und seine Katze hat alles gesehen. In diesem Moment stürzt Erde auf ihn herab und begräbt ihn unter ihrem Gewicht wie damals als vierjähriges Kind, als er lebendig begraben wurde. Zwei Tage dauert es, bis er zu sich kommt und entscheidet, den Mörder seiner Frau zu suchen, sobald er sie zu Grabe getragen hat. Und ein Haussperling hat es beobachtet. Wahsch muss einfach in das Gesicht des Mannes sehen, der ihm das angetan hat. Denn der Schrecken braucht ein Gesicht. Ein Gesicht, das nicht sein eigenes ist. Vom Gerichtsmediziner bekommt er einen Namen, dem Wahsch unerbittlich folgt, denn die Polizei wird nichts tun, um diesen Mann festzunehmen. Und der Goldfisch hat alles gehört.
„Anima“ ist anders. Es ignoriert und übergeht die gängigen Regeln diverser Genres, es erzählt seine Geschichte wie nie zuvor aus der Sicht von Tieren und überspannt die Grenze zum erträglichen. Dieses Buch ist keine Unterhaltung. Dieses Buch geht unter die Haut, nistet sich ein und lässt so schnell nicht los. Wer einfach nur ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel sucht, in dem sich das Gute dem Bösen stellt und es knapp zu einem Happy End kommt, muss sich anderweitig umsehen, oder nur die ersten 300 Seiten lesen. Am besten liest man die ersten drei Seiten und überzeugt sich selbst davon, was einen die nächsten 400 Seiten erwartet. Und es wird schlimmer. So viel sei verraten.
Lange scheint man einen Psychothriller zu lesen. Die klassischen Elemente sind gegeben. Ein Mord, ein Mann, der nicht loslassen kann, und ein Mörder, der psychotischer kaum sein könnte. Der einzige markante unterschied ist, dass Wahsch nicht nach Rache sinnt. Es geht ihm nicht darum, den Mann aufzuhalten, sondern darum, sich seine geistige Gesundheit zu bewahren. Während er betäubt seiner Suche nachgeht, wird er immer wieder mit der Gewalt der Menschen konfrontiert. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Thema durch die Geschichte, bis nach ein, zwei unerwarteten Wendungen und dem vermeintlichen Showdown plötzlich zum Hauptthema wird. Auf einer Seite ist das überraschend neu, auf der anderen Seite fühlt man sich etwas vor den Kopf gestoßen, denn der Mord vom Anfang scheint nur noch ein Auslöser zu sein und nicht das eigentliche Thema. Von da an wird das Buch in Erinnerung bleiben – aber nicht jedem positiv. Teil III fixiert die Erzählperspektive auf nur noch ein Tier, Wahsch Totem, und dieses zweigt den Roman vom normalen Thriller ab und lässt ihn ein kleines bisschen in Phantastik driften.
Im Fokus steht also letztlich weniger eine obligatorische Mordaufklärung, sondern die Abgründe, die in einem Menschen schlummern können. Dunkle Seiten, die nie einer zu Gesicht bekommen hat, bis es zu spät ist. Der nette Nachbar von neben an, der Onkel, der Vater, die Mutter, funktionierende Personen der Gesellschaft leben irgendwo im Keller ihren finsteren Drang aus, oder haben dort zumindest einige metaphorische Leichen verscharrt. Wozu ein Mensch fähig ist, wird jeden Tag klar, wenn man einen Blick in die Zeitungen wagt. Selbstsprengungen, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Massenmorde im Krieg und nur selten ist der Täter ein Psychopath. Für viele Menschen ist das unverständlich und verstörend, aus der Sicht von Tieren hingegen ist es einfach nur beschämend.
Die wahre Wirkung erzielt „Anima“ nämlich dadurch, dass die Geschichte von Tieren erzählt wird. Denn wie könnte man die Natur des Menschen besser zu Tage bringen, als uns – die selbsternannte Krone der Schöpfung – mit dem zu vergleichen, wovon wir uns so gerne abheben und distanzieren. Dem wilden Tier, die seelenlose, instinktgetriebene Kreatur ohne freien Willen. Zugegeben Wajdi Mouawad interpretiert manche Tiere „sprachgewandter“ als man ihnen zugestehen möchte, wie die Hausspinne, die in ihrer Ecke oben zwischen den Balken auf ihrem grazilen Netzt hockt und etwas hochnäsig geraten ist, aber die meisten Tiere sind ihm außerordentlich gut gelungen. So unterschiedlich wie die Tiere wandeln sich eben auch die Erzählstile. Die Neutralität und Arroganz der Katze kommen ebenso gut zur Geltung, wie das hektische und ruckartige Verhalten eines Wellensittichs („Ich tschilpe.“) oder die grenzenlose Liebe eines Hundes zu seinem Herrchen. Besonders schön ist das Kapitel des Goldfischs im Glas. Aus ihrer eigenen egozentrischen Welt herausgerissen, schauen sie alle auf Wahsch und alle erkennen ihn zwischen den anderen Menschen als etwas Besonderes. Was sie zu sehen und zu hören bekommen, ist allerdings alles andere als schön und steht im krassen Gegensatz zu der neutralen Sprache der Tiere. Besonders die Dialoge stechen dabei hervor. Und spätestens wenn ein Kampfhund die Grausamkeit des Menschen nicht mehr versteht und panische Pferde von ihrem menschlichen Henker zum Schlachthaus gefahren werden, errötet man vor Scham.
Einen Nachteil hat diese Erzählmethode jedoch, denn die Kapitel sind sehr kurz – teilweise nur einen Satz lang – wodurch der Roman etwas zerrupft und unnötig holprig wird. Da merkt man, dass Mouawad auch Theater und Filme macht, denn als Film würde „Anima“ besser funktionieren. Außerdem haben die Kapitel die lateinischen Namen der erzählenden Tiere als Überschrift, was einem zwar einen unerwarteten Ratespaß beschert (die Auflösung findet man im Klappdeckel), allerdings auch vom eigentlichen Inhalt ablenkt. Bei all der Grausamkeit aber vielleicht nicht immer schlecht. Die Nüchternheit und vor allem Distanziertheit der Tiere bewirkt auch, dass man mit Wahsch nicht wirklich leidet. Zumindest nicht in den ersten zwei Dritteln des Romans. Und das obwohl ihm nur wenig erspart bleibt. Was nicht bedeutet, dass man desinteressiert ist, man ist nur eben nicht in der Lage, in sein inneres zu sehen.
Es gibt keine sympathischen Charaktere, keinen Raum für Hoffnung, kein gutes Haar an der Bestie Mensch. Das wissen viele – zumindest die Zyniker – und doch treibt es „Anima“ auf die Spitze und erschlägt einen förmlich mit dieser Aussage, damit es auch der letzte verstanden hat. Ob das Ende so hart hätte ausfallen müssen, muss jeder selbst entscheiden. Manchmal ist weniger mehr, aber dafür hat man wohl kaum ein Buch am Ende so verstört, angewidert und erleichtert weggelegt.
Fazit
„Anima“ ist eine beinahe psychedelische Odyssee durch eine Welt voller bestialischer Menschen und menschlicher Tiere. Der Homo Sapiens kommt hier nicht gut weg, was das Lesen zu einer harten Bewährungsprobe macht, die nicht jeder bestehen wird. Kein Gute-Laune-Buch, aber voller schwer hinnehmbarer Wahrheit. Nur das Ende trägt fragwürdig stark auf.
Pro und Kontra
+ aus der Sicht der Tiere erhält der Roman eine besondere Intensität
+ die Natur des Menschen wird offenbart
+ die Charaktere der Tiere sehr gut herausgearbeitet
o sehr brutal
- der Mord vom Anfang verliert an Bedeutung
Beurteilung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5