Zeit der Wut (Giancarlo de Cataldo und Mimmo Rafele)

cataldo zeit

Folio Verlag, 6.3.2012
Originaltitel: La forma della paura (2003)
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Gebunden, 248 Seiten
€ 22,90 [D] | € 22,90 [A] | CHF 34,90
ISBN: 978-3-85256-592-7

Genre: Thriller


Autoren

Giancarlo de Cataldo wurde in Taranto geboren. Er ist Richter am Berufungsgericht in Rom, Autor von Romanen, Erzählungen und Drehbüchern für Film und Fernsehen, gibt Krimianthologien heraus und schreibt für italienische Tageszeitungen und Magazine. Der Regisseur und Drehbuchautor Mimmo Rafele wurde als Domenico Rafele in Kalabrien geboren, hat mit Bernardo Bertolucci, Giuseppe Bertolucci und Gianni Amelio zusammengearbeitet, Drehbücher für die 8.-10. Staffel (1997-2001) der Fernsehserie „Allein gegen die Mafia“ geschrieben. Mit de Cataldo hat er das Drehbuch zum Fernsehfilm „Paolo Borsellino“ (2004) verfasst.


Inhalt

In einem Vergnügungspark in Rom wird der Kriminalbeamte Dantini erschossen. Den Fall bearbeitet sein Freund Nicola Lupo. Ein Bekennerschreiben wird veröffentlicht, in dem Islamisten den Tod Dantinis als Rache für die Folter an dem Islamisten Mamoud bezeichnen. Lupos Ermittlungen führen ihn zu einem ehemaligen Kollegen, der unter dem Decknamen „der Kommandant“ dunkle Ziele verfolgt. Unterstützt wird der Kommandant dabei von seiner Freundin Alissa sowie Hauptkommissar Aldo Mastino und anderen Mitarbeitern der Anti-Terror-Einheit. Mastino soll einen Araber und Islamisten als Selbstmordattentäter inszenieren. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Marco Ferri, ein gewalttätiger und wutgeladener junger Polizist.


Rezension

Die Handlung in Zeit der Wut wird in episodischen Linien erzählt, häufig fragmentiert in kleine Szenen oder gar Details, die während der Lektüre durch Neuorganisation des Materials zu einer durchgehenden Geschichte geformt werden müssen. Sie sind gleichsam überdacht mit einem großen, durchgehenden Handlungsbogen, von dem nur wenige Ereignisse in den episodischen Bögen unabhängig sind, darunter der Angriff auf Schwule als Freizeitgestaltung.

Der Roman besteht neben einem Prolog und Epilog aus neun Teilen mit 69 Szenen, die den Charakter filmischer Einstellungen aufweisen und eine durchschnittliche Länge von 3,2 Seiten haben. In einer Folge von Expositionsszenen machen wir erste Bekanntschaft mit einigen der Protagonisten, die später in einen komplexen Zusammenhang eingefügt werden. Es gibt vermutlich kaum ein anderes erzählerisches Werk, das formal so nah beim Drehbuch, der filmischen Inszenierung, liegt und zugleich ein gelungener Roman ist. In Umkehrung des Prinzips „Show, don’t tell“ wird bei Einsetzen einer brutalen Handlung die Szene verlassen, das Kapitel beendet, und in der nächsten Szene wird dem Vorgesetzten, der am Handlungsort erscheint, eine Zusammenfassung der Ereignisse geliefert.

Am Ende zeigt sich, wer hinter allem steckt und was den Prolog mit der Haupterzählung verbindet. Wer die Mechanik des politischen italienischen Kriminalromans kennt, ahnt bald, dass es im Hintergrund einen Puppenspieler gibt, der ein System aus Politikern, Wirtschaftsvertretern, Söldnern und Kriminellen steuert und an einem ambitionierten, machtorientierten Projekt arbeitet. Aber es kommt noch einige Spuren ärger. Auf der internationalen Ebene, in Verwebung mit verschwörungstheoretischen Gedanken, geht es um nicht weniger als die Neugestaltung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Zwei Netzwerke der Macht bekämpfen sich. Das eine bedient sich krimineller, bisweilen terroristischer Methoden, um einen sicheren Staat zu erzeugen. Das andere Netzwerk sieht darin einen Kampf gegen die Demokratie. Beide handeln nach einem eigenen Regelwerk, das oft genug nicht mit rechtsstaatlichen Regeln kompatibel ist. Mastino und seine Einheit haben keine Probleme damit, Menschen zu entführen, zu misshandeln, ihnen Drogen unterzuschieben, Beweise zu manipulieren und Geld aus einem Privathaus zu stehlen.

Indem die Autoren das Leben und die Haltungen der verschiedenen Figuren untersuchen, sagen sie viel aus über unsere Gegenwart. Besonders am Beispiel von Marco Ferri zeigen sie, wie ein Mensch in ein soziales Milieu gerät und sich dort nicht nur einen Platz sucht, sondern Menschen kennenlernt, wie er sie zuvor nie getroffen hat, Menschen, die ihm überlegen sind, ihn formen und instrumentalisieren.


Fazit

De Cataldo und Rafele haben mit Zeit der Wut einen einfallsreichen und intelligent gestrickten politischen Kriminalroman geschrieben, der sich wie ein Epitaph auf das heutige Europa liest.


Pro und Kontra

+ viele kleine Stücke, die man als Abschweifungen betrachten kann, erhöhen das Lesevergnügen
+ hervorragende Antithese zur politischen Äußerung, man sei auf einem guten Weg

Wertung: sterne4.5
Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5