Die Bienen (Laline Paull)

paull bienen

Tropen 2014
Originaltitel: The Bees (2013)
Übersetzt von Hannes Riffel
Gebunden, 346 Seiten
€ 19,95 [D] | € 20,50 [A] | CHF 27,90
ISBN: 978-3-608-50147-6

Genre: Fantasy


Inhalt

Flora 717 ist Hygienearbeiterin im Bienenstock. Anders als ihre Schwestern kommt sie wie ein großes und unattraktives Geschoss zur Welt. Aber sie hat Persönlichkeit, ist intelligent, wissbegierig und kann, auch darin unterscheidet sie sich von ihren Schwestern, sprechen. Das jedoch ist eine Kommunikationstechnik, die nur höherrangigen Bienen vorbehalten ist. Die Priesterin Schwester Salbei wird auf Flora 717 aufmerksam und bewahrt sie davor, von der Polizei als deformiert und minderwertig liquidiert zu werden. Damit beginnt für Flora im Kastensystem des Bienenstocks ein sozialer Aufstieg, der von manchen Bienen schützend begleitet, von anderen argwöhnisch zur Kenntnis genommen wird. Mehr als einmal ist ihr Leben in Gefahr, doch Flora ist zu Höherem bestimmt als dazu, der Doktrin „Arbeiten! Gehorchen! Dienen!“ gemäß ihren Existenzsinn in der Hygienearbeit zu erschöpfen.


Rezension

Die Bienen beginnt mit einem Prolog in der Menschenwelt und wechselt bis kurz vor Schluss in die eines Bienenstocks. Die Heldin ist Flora 717, die wir von ihrer Geburt an durch das Bienenleben begleiten. Der Bienenstock ist totalitär organisiert. Es gibt ein Kastensystem mit eindeutiger Aufgabenverteilung, Privilegien, die totale Kontrolle, rigide Verhaltensregeln, rücksichtslose Liquidierung bei Fehlverhalten. In Situationen, in denen zum Wohle des Schwarms Bienenopfer gebracht werden sollen, suchen höherrangige Bienen die Mitglieder aus, die ihr Leben hergeben müssen oder dürfen. Grundsätzlich kann eine Arbeitsbiene die Fähigkeit zur Fortpflanzung entwickeln, aber die rigorose Arbeitsteilung erlaubt dies nur der Königin. Legt eine andere Biene einmal ein Ei, wird dieses Sakrileg sofort von der Fruchtbarkeitspolizei mit dem Tode bestraft.

Die strenge Organisation des Bienenstocks ist zum Teil dem Katholizismus entlehnt. Die Königin ist die Heilige Mutter, die Priesterkaste ist, um ein Modewort zu verwenden, für Compliance zuständig, das Leben des Schwarms wird gesteuert über dogmatische Formeln, einen Katechismus, eine Art "Mutter Unser" und die brutalen Eingriffe der Polizei. Die Bibel für Paulls Bienenstock scheint George Orwells 1984 zu sein. Die Beschreibung der Bienenwelt ist bestimmt durch ein wenig biologischen Realismus und sehr viel Vermenschlichung. Dazu gehören weniger das Fabelelement, dass die Bienen sprechen können, oder die Geschichte im Großen. Vielmehr handelt es sich um Details, die unpassend wirken. Da wird in Kantinen gegessen und getratscht, Türen schwingen auf und zu, eine Drohne legt einen muskulösen Arm um eine Schwester, verschiedene Haushaltsgegenstände scheinen direkt der Menschenwelt entnommen.

Fragen wir uns zu Beginn noch, welche Elemente der Bienengesellschaft realistisch dargestellt sind, spielt dies bald kaum mehr eine Rolle. Die Verbindung des aus dem Biologieunterricht bekannten Bienentanzes mit Elementen menschlichen Tanzes und die Verortung in einem schmucken Tanzsaal lesen sich spannend in der Informationsvermittlung und unterhaltsam. Paull entwickelt auch die Architektur des Bienenstocks für Leser nachvollziehbar. Die Arbeitsteilung in einem realen Bienenstock folgt einer Einteilung des Lebens einer Arbeitsbiene in Abschnitte. Paull hat dies insoweit verändert, als sie den Stock nach Tätigkeiten wie Berufsgruppen differenziert: qua Geburt in eine bestimmte Kaste ist eine Biene einer bestimmten Berufsgruppe zugeordnet, in der sie ihren Dienst verrichtet, bis sie dazu nicht mehr geeignet oder in der Lage ist. In vielen Details, wie der Beschreibung der Kinderkrippen, der Flüge Floras durch die Natur, der formelhaften Adoration der Männlichkeit beim Auftreten der Drohnen, die sich für die Größten halten und nicht wissen, was sie am Ende erwartet, treffen die Elemente der Vermenschlichung auf entomologische Fakten und verbinden beide Sphären zu einer unterhaltsamen Geschichte.

Zu den schönsten Einfällen Paulls gehört die Zeichnung der Drohnen. Sie schlüpfen, leisten keine Arbeiten, lassen sich durchfüttern und erfüllen ihren Lebenssinn in der Begattung der Königin. Paull hat sie entsprechend Wilhelm Busch charakterisiert, der sie in seiner 1872 erschienenen Bildergeschichte Schnurrdiburr oder Die Bienen als „gefräßig, dick und faul und dumm“ bezeichnet. Sie halten sich bei schönem Wetter an Sammelplätzen auf, warten auf irgendeine Prinzessin, haben Schwierigkeiten, in ihren Stock zurückzufinden, werden aber in jedem anderen Stock aufgenommen. Werden die Nahrungsquellen ertragsärmer, beginnen die Arbeitsbienen, die Drohnen wegzubeißen, aus dem Stock zu vertreiben. Unfähig Nahrung zu finden, verhungern sie in freier Natur, außerhalb ihrer Heimstätte.

Weniger gut entwickelt ist Floras eher unwahrscheinliche Freundschaft mit Herrn Linde, einer Drohne, der sie das Leben rettet, oder die Hinweise auf eine gefährliche Substanz in der Außenwelt, die die Bienen gefährdet. Der narrative Faden, den Paull mit der Umweltproblematik beginnt, das Bienensterben der letzten Jahre fällt ein, ist zu oberflächlich und nichtssagend, wird später dann einfach vernachlässigt. In (grob) der ersten Hälfte des Romans wird Flora durch ihren kleinen Kosmos geschickt, erlebt den Bienenstock und das Leben seiner Bewohner aus einer für Hygienearbeiterinnen unbekannten und unzulässigen Perspektive, alles episodisch angelegt. Dann wechselt Paull in den Modus einer spannenden und durchgehenden Erzählung, deren Zielführung offensichtlich ist und Flora als Erlöserin ins Zentrum setzt. Die Bienen beschreibt eine Sozialgemeinschaft, die innerhalb unserer Welt existiert, und lässt durchaus eine Lektüre als Sozialsatire zu. Paull impliziert, statt Aussagen, soziale Statements zu liefern. Mindestens die Passagen über die Drohnen sind als amüsanter Beitrag zum Geschlechterdiskurs lesbar.


Fazit

Die Bienen erzählt eine unterhaltsame Abenteuergeschichte, die sich liest wie eine Verbindung aus Unten am Fluss und 1984, übertragen in eine andere Welt. Ein schönes Märchen über Repression und Erlösung, die Suche nach einem Platz im Leben mit einer Biene, die einer sechzehnjährigen Heldin aus einer Jugenddystopie nachempfunden ist. Trotz kleinerer Mängel ist es ein großes Vergnügen, Flora durch die Geschichte zu folgen.


Pro und Kontra

+ Flora als Rollenmodell für den Weg in die Individualisierung und für den Kampf gegen korrupte Institutionen und exponierte Vertreter ihrer Welt
+ die Königin (Mutti) als Angestellte der Mächtigen steht zur Disposition, wenn sie ihren Zweck nicht mehr erfüllt

- gelegentlich überzogenes Pathos

Wertung: sterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Leseertrag: 5/5
Preis/Leistung: 4/5