Belle de Jour (Joseph Kessel)

kessel belle

Berlin, Wagenbach 2011
Originaltitel: Belle de jour (1928)
Übersetzt von Karl Stransky
Durchgesehen und ergänzt von Susanne Farin und Michael von Killisch-Horn
Broschiert, 192 Seiten
€ 10,90 [D]
ISBN: 978-3-8031-2658-0

Genre: Belletristik


Autor

Joseph Kessel (1898–1979) wurde als Sohn russischer Eltern in Argentinien geboren. Dort, in Russland und Frankreich verbrachte er seine Kindheit und Jugend. Im Ersten Weltkrieg diente er als Flieger in der französischen Luftwaffe. Er studierte in Nizza und Paris, arbeitete als Journalist und Autor von Flieger-, Abenteuer-, Familien- und Gesellschaftsromanen. Sein erstes Buch, La Steppe rouge, ist eine Sammlung von Erzählungen über die Russische Revolution. Seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg verarbeitete er in seinem 1923 veröffentlichten Roman L’Equipage. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er französischer Staatsbürger. Im Jahr 1928 war er Mitbegründer der Wochenzeitung Gringoire. 1962 wurde er in die Académie Francaise aufgenommen.


Inhalt

Kessel erzählt in Belle de Jour die Geschichte der schönen jungen "grande bourgeoise" Séverine Sérizy. Séverine ist mit dem netten jungen Chirurgen Pierre verheiratet, den sie liebt und der sie seinerseits verehrt. Trotzdem ist sie nicht glücklich. In den Armen ihres wohlerzogenen und rücksichtsvollen Gatten gefriert sie zu Eis. Während eines Skiurlaubs wird Séverine krank. Als sie nach Paris zurückkehrt, hat sich die Krankheit zu einer schweren Lungenentzündung ausgeweitet. Die Ärzte behandeln sie, indem sie Blutegel ansetzen. Dadurch werden ihre Leiden gemindert. Diese Behandlung macht ihr aber auch zum ersten Mal die ihr innewohnende Sinnlichkeit auf beunruhigende Weise bewußt. Eine Bekannte, ebenfalls jung, verheiratet und aus ihrer Gesellschaftsschicht, erzählt ihr, daß sie in einem "maison de rendezvous" arbeite. Der Gedanke fasziniert Séverine.

Zum Freundeskreis ihres Mannes zählt der gelangweilte Bonvivant und Sensualist Husson. Er stellt ihr ständig nach, schenkt ihr Blumen und belästigt sie mit erotisch angehauchten Andeutungen, in der leeren Hoffnung, sie werde ihn erhören. Eines Tages berichtet er Séverine von seinen Besuchen in bestimmten Etablissements. Er nennt ihr nebenbei eine Adresse, ohne sich etwas dabei zu denken. Nachdem sich Séverine einige Tage mit der Entscheidung gequält hat, geht sie zu Madame Anais, die das von Husson erwähnte "maison de rendezvous" führt. Séverine bewirbt sich und wird genommen. Um die Fassade bürgerlicher Respektabilität zu wahren und um ihre Tätigkeit vor ihrem Mann zu verbergen, gibt sie ihren richtigen Namen nicht an und erscheint immer nur nachmittags von zwei bis fünf. Dieses Mysterium verschafft ihr den Namen Belle de Jour.


Rezension

Kessels in der Tradition des französischen "roman psychologique" stehender Roman Belle de Jour sorgte bei seinem Erscheinen 1928 für einen "succès de scandale". Kessel schreibt in seinem Vorwort zum Roman, daß das Thema von Belle de Jour nicht Séverines sexuelle Abweichung sei, sondern ihre von dieser Abweichung unabhängige Liebe zu Pierre und die Tragödie dieser Liebe. Er schildert die Geschichte einer Frau, die einen Mann mit ganzem Herzen liebt, aber viele andere mit ihrem ganzen Körper und darüber verzweifelt. Im katholischen Glauben erzogen, fühlt sie sich als Sünderin und stürzt in tiefste Schuldgefühle, beichtet in der Hoffnung auf Absolution dem nun auf ewig zum Zölibat verdammten "Priester" Pierre und sühnt fortan, indem sie ein keusches Leben führt - sie verläßt Madame Anais und widmet sich ganz Pierre. Die bürgerliche Moral ist nach vielen ironischen Wendungen wieder im Lot.

Kessel liebt seine Hauptfigur Séverine und er empfindet Mitleid für sie. Mittels sentimentaler Psychologie schafft er es, daß sich der Leser mit Séverine identifiziert und Kessels Gefühle ihr gegenüber teilt. Der Roman ist, wie seine Heldin, schicksalhaft gespalten in die klinische Beobachtung der pathologischen Sexualität und in dramaturgische Kunstgriffe, um die Lethargie einer ans Nichtstun gewöhnten Frau zu überwinden. Husson spielt eine wesentliche Rolle dabei. Er ist die Figur, die die Handlung vorantreibt, Séverines Leben auf unsichtbaren Schienen lenkt: seine unwillkommenen Avancen ihr gegenüber lassen sie ihre Frustrationen erst erkennen; er nennt ihr unabsichtlich die Adresse, die ihr sexuelles Leben umkrempelt; er bedroht ihre Belle-de-Jour-Existenz derart, daß er eine Katastrophe einleitet.

Hierzulande wurde Kessel durch die Verfilmung zweier seiner Romane berühmt: Belle de Jour, den Luis Bunuel für die Leinwand mit Catherine Deneuve in einer ihrer ersten Hauptrollen adaptierte, sowie Die Spaziergängerin von Sans-Souci, der in der Regie von Jacques Rouffio entstand und Romy Schneider in ihrer letzten Rolle zeigt.


Fazit

Joseph Kessel hat mit Belle de Jour keinen erotischen Roman geschrieben, der Sexualität zum Thema hat, sondern eine Frau, die einen inneren Kampf um Moral und Selbstachtung austrägt, wobei sie den Pfad der Selbstzerstörung geht.


Pro und Kontra

+ ein düsterer dramatischer Roman
+ mehr als die Geschichte einer Ehebrecherin

Wertung: sterne4

Inhalt: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5