Sappho. Pariser Sitten (Alphonse Daudet)

daudet sappho

Zürich, Manesse 1996
Originaltitel: Sapho. Mœurs parisiennes (1884)
Übersetzt von Eveline Passet
Nachwort von Ute Stempel
Leinen, 338 Seiten
ISBN: 978-3-7175-1890-9

Genre: Belletristik


Inhalt

Der hübsche 21jährige Adlige Jean Gaussin d’Armandy kommt Anfang der 1850er Jahre aus der Provence nach Paris, um der Familientradition folgend eine Ausbildung zum Konsul zu absolvieren. Auf einem Maskenball des Ingenieurs Déchelette, zu dem die wichtigsten Pariser Künstler eingeladen sind, lernt er die fünfzehn Jahre ältere Fanny Legrand, genannt Sappho, kennen und beginnt eine Affäre mit ihr. Zwar liebt er sie nicht, aber Fanny ist eine Frau mit Vergangenheit und Erfahrung, unehelich geborenes Kind einer früh verstorbenen Kellnerin und eines trunksüchtigen Droschkenkutschers. Er ist überzeugt, jederzeit die Affäre beenden zu können.

Nach drei Monaten ungetrübten Beisammenseins übernachtet er zum ersten Mal in ihrer Wohnung und am nächsten Morgen wird er Zeuge, wie sie seinen Vorgänger, der sie noch immer liebt und begehrt, von der Türschwelle verjagt, ohne dass sein Flehen und Betteln sie berührt. Erschüttert von ihrer Grausamkeit und ihrem gossenhaften Verhalten will er sie verlassen, bleibt aber bei ihr, als sie alles für ihn aufgibt. Anfangs leben sie im Hotel, nach einigen Monaten mieten sie aus Gründen der Kosten und der Behaglichkeit eine kleine Wohnung in Paris und leben nunmehr in wilder Ehe.


Rezension

Daudet wurde als dritter und letzter Sohn eines wohlhabenden Seidenwarenfabrikanten in Nîmes geboren. 1848 zog die Familie, ruiniert durch schlechte Seidenernten und bankrotte Schuldner, nach Lyon, wo die Familie in Armut lebte. Wegen seiner Zierlichkeit und Kurzsichtigkeit wurde Daudet von seinen Mitschülern am Gymnasium gehänselt und mit dem Spitznamen „Le Petit Chose“ bedacht. Oft zog sich der junge Daudet nach der Schule an die Rhone zurück, wo er eines Tages, mit zwölf Jahren, einen verschwiegenen Gasthof entdeckte, der als Freudenhaus diente. Entzückt von seiner Anmut, Sinnlichkeit und Schönheit – er hatte schon einem Bildhauer als Modell für einen Kathedralenengel gedient – nahmen sich die Frauen des frühreifen Jungen an und halfen ihm beim Erkunden seiner frivolen und lasziven Neigungen, die er später in seinem Werk verarbeitete.

Seine Feinfühligkeit, Gutherzigkeit und seinen melancholischen Humor sah er in krassem Widerspruch zu seiner ausgeprägten Triebhaftigkeit, der er in jugendlicher Unbekümmertheit nachgab. Selbst als er mit zwanzig Jahren Symptome der Syphilis aufwies, konnte er darüber nur lachen. Auch seiner späteren Ehefrau, der ehrgeizigen Industriellentochter Julia Allard, die er 1867 heiratete, gelang es nicht, ihn zur Treue zu disziplinieren. Gleichwohl und im Widerspruch dazu hielt er nach außen hin an den Tugenden Reinheit, Aufrichtigkeit und Natürlichkeit fest, die er vor allem im der südfranzösischen Provinz vorzufinden meinte. In Sappho kontrastiert er zwei Frauentypen: den Mätressen und Prostituierten aus Paris stellt er in glorifizierender Überhöhung die Frauen aus der Familie der männlichen Hauptfigur gegenüber, Mutter, Tante und die beiden Zwillingsschwestern, die in ihrer Güte und Reinheit engelsgleich und jungfräulich erscheinen.

Daudet war bereits ein erfolgreicher Autor, als er 1884 mit Sappho seinen spektakulärsten Publikumserfolg erzielte. Das Buch, von dem in kurzer Zeit über 80.000 Exemplare verkauft wurden, gilt als Daudets bedeutendster Gesellschaftsroman und als Meisterwerk des Realismus. Zentrales Thema des gefühlsbetonten Romans mit seinen impressionistischen Stimmungsschilderungen und einer lebendigen Darstellung der Boheme ist die psychologisch überzeugende Beziehung zwischen dem sensiblen jungen Jean und der leidenschaftlichen und erotisch versierten Sappho, die zur allmählichen Zerrüttung des Mannes führt. Vorlage für die Geschichte bildete seine eigene langjährige quälerische Beziehung mit Marie Rieu.

Sappho ist ein Thesenroman über die Abhängigkeitsbeziehung zwischen einem Mann mit Geld und/oder Kultur und einer Frau zweifelhaften Rufs. Er zeigt verschiedene Paarbeziehungen, die für die Männer stets, für die Frauen oft tragisch enden. Sappho ist eine Femme fatale, aber die Zerstörung des Mannes ist nicht beabsichtigt. Wohl aber legt sie es darauf an, Jean mit ihren erotischen Finessen einzufangen und zu fesseln. Schon bei der ersten Begegnung ist sie, die erfolgreiche Verführerin, sich ihres Erfolges bewusst, anders als der schwächliche und unerfahrene Jean, der in seiner Selbstüberheblichkeit und seinem Stolz überzeugt ist, dass eine Frau wie Sappho ihn niemals beherrschen wird.

Sappho liebt Jean und will ihn nicht verletzen, rührt aber stetig an seiner Eifersucht, irritiert ihn mit ihrem ordinären Verhalten und ihren losen Reden, die auf ihre Herkunft aus der Unterschicht verweisen, quält ihn mit ihren Launen und Ausfällen, die auf ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit verweisen, denn sie fürchtet, ihn zu verlieren. Sie weiß, dass der lustorientierte und egoistische Jean sie nicht liebt und ihre Erfahrungs- und Erlebenswelt verabscheut. Daudet schildert nicht nur die Liebes- und Eifersuchtsqualen des Mannes, sondern auch die der Frau mit tiefgehendem Verständnis, so dass sich der Leser mit beiden Figuren identifizieren kann. Dabei sind die emotionalen Verwicklungen und Probleme derart elementar, dass sie einen universalen und damit zeitlosen Charakter bekommen – weshalb der Roman auch zum Klassiker avancierte. 

Daudet widmete das Buch seinen beiden Söhnen als eine Mahnung oder Warnung, nicht vor den Kurtisanen oder der freien Liebe im allgemeinen, sondern vor einer versklavenden Liebe, die den Seelenfrieden, die körperliche Gesundheit, die berufliche und gesellschaftliche Existenz gefährdet. Obwohl damit der herrschenden Moral entsprechend, moralisiert er nicht, sondern bleibt vorurteilsfrei. Er verdammt Sappho nicht, sondern lässt ihr ihre Menschlichkeit, mit all ihren Vorzügen und Fehlern.


Fazit

Alphonse Daudets Sappho ist eine schön erzählte Geschichte über selbstbezogene Männer, ruchlose Frauen und die sich aus dieser Verbindung ergebende Liebe, die in Momenten romantisch, im Ergebnis jedoch zerstörerisch ist.


Pro und Kontra

+ faszinierende Charaktere
+ wunderbare Geschichte über eine verzehrende Liebe

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5