Auf der Suche nach Marie (Madeleine Bourdouxhe)

bourdouxhe suche

Edition fünf, 2013
Originaltitel: À la recherche de Marie (1943)
Aus dem Französischen übersetzt von Monika Schlitzer
Nachwort von Faith Evans
Leinen, 160 Seiten
€ 18,90 [D] | € 19,50 [A] | CHF 27,90
ISBN: 978-3-942374-35-4

Genre: Belletristik


Inhalt

Marie, eine dreißigjährige attraktive Französin, ist seit sechs Jahren verheiratet. Sie liebt ihren Mann Jean, widmet sich ganz seinem Leben und seinen Bedürfnissen. Die Freundinnen bewundern sie dafür - sie sei die einzige Frau, die ihren Mann aus tiefstem Herzen liebe und die in ihrer Liebe die Selbstverwirklichung gefunden habe. Jean ist jedoch alles andere als ein Traummann. Er ist zwar korrekt, aber ungeduldig, egoistisch und langweilig. Seine Komplimente sind hölzern, Sex ist ein Feierabendritual, nach dem er immer einschläft. Selbst im Urlaub weicht er nicht von seiner Routine ab. Marie lernt einen Studenten kennen und beginnt ihr Leben zu hinterfragen. Jean verkörpert für sie Zärtlichkeit, Wärme und Vertrautheit, der Unbekannte dagegen neues, aufregendes Leben.


Rezension

Die Belgierin Madeleine Bourdouxhe wurde 1906 in Lüttich geboren und starb 1996 in Brüssel, lebte aber einige Jahre in Paris, wohin die Familie 1914 gezogen war, weil der Vater dort eine Stellung bekommen hatte. Ihre wichtigsten Kindheitserinnerungen wurden hier geprägt und finden ihren literarischen Niederschlag in den lebendigen Vignetten des Pariser Stadtlebens mit den Boulevards, Bahnhöfen, Parks und Plätzen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Familie nach Brüssel, wo Bourdouxhe das Gymnasium besuchte und anschließend Literatur und danach Philosophie studierte. Maßgeblich wurde sie von Nietzsche, Gide und Apollinaire beeinflusst. 1927 heiratete sie den Mathematiklehrer Jacques Muller, die Ehe hielt bis zu seinem Tod 1974.

Während ihrer Ehe gab Bourdouxhe Nachhilfestunden und Unterricht an einer Privatschule, aber ihr Interesse galt immer der Literatur. 1934 begann sie mit dem Schreiben ihres Erstlingswerks, Vacances – Die letzten großen Ferien (dt. 2002), das unvollendet blieb. 1935 entstand ihr erfolgreichster Roman, Gilles’ Frau (dt. 1996), der zwei Jahre später bei Gallimard erschien. Hauptfigur ist Elisa, die ihren Mann bis zur Selbstaufgabe liebt. Als er sie mit ihrer Schwester betrügt, begeht sie Selbstmord. Im gleichen Jahr begann Bourdouxhe mit Auf der Suche nach Marie und schuf mit der Protagonistin eine erklärte Gegenfigur zu Elisa, stark, intelligent, selbstbewusst, mit einem ungebrochenen Lebenswillen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Bourdouxhe in Vergessenheit. In den 1980er Jahren wurde sie von der feministischen Literaturkritik rezipiert, Gallimard legte ihre Erzählungen und Romane 1985 neu auf.

Marie nimmt sich das den Männern zugebilligte Recht, ihre Sehnsüchte zu erfüllen und fremdzugehen, ohne sich als Ehebrecherin zu verstehen. Die erotische Sensation ist zwar eine bedeutende, aber auch flüchtige Erfahrung, die ihr die Ehe nicht bieten kann, deren eigentliche emotionale Erfüllung in der freundschaftlichen Zuneigung und Geborgenheit zu finden ist. Sie beginnt, sich von den Fesseln weiblicher Unterwürfigkeit und Abhängigkeit zu lösen, angestiftet durch die an vergangene Gefühle erinnernde erotische Erfahrung nach der eigenen, mit der Ehe verloren gegangenen Identität zu suchen, denn als der junge Mann zurück nach Paris reist, fühlt sich Marie „einsam und zwischen zwei zerbrochenen Welten hin und her gerissen.“ (S.23) Auch ihre Ferien sind bald beendet und das Leben geht wieder seinen alten Gang. Doch alles Vertraute scheint ihr nun fremd, sie denkt über ihr Leben und ihre Ehe nach, darüber, dass sie in ihrer Liebe zu Jean aufgegangen ist und die alte Marie verloren hat, zu einer anderen geworden ist. Marie erinnert sich an das Mädchen, das sie mit sechzehn war.

Auf der Suche nach Marie ist in dem Frauenbild seiner Zeit voraus. Marie beginnt auf dem Weg zu sich selbst mit Träumereien, gefolgt von Stolpern, dem Durchspielen einer Alternative in kleinen Details, schließlich der Grenzüberschreitung im Ehebruch, der Wahrnehmung und dem Einfordern der Erfüllung des eigenen Begehrens. Der Student erscheint nur als äußerer Anlass, der sich zufällig am Strand einstellt. Modern mutet die Aussparung psychologisierender Kommentare an, wenngleich Bourdouxhe gelegentlich mit simplen Wahrheiten aufwartet. Sie erzählt in stillen und sanften Bildern, die bisweilen ins Surreale abgleiten, breitet das reiche Innenleben und die Entwicklung der Protagonistin fast ohne Dialoge nur durch den Blick in deren Gedanken- und Gefühlswelt vor dem Leser aus.

Kurz vor der Kriegserklärung, der die Besetzung Frankreichs und Belgiens folgte, war der Roman beendet. Bourdouxhe, deren politisches Bewusstsein durch den spanischen Bürgerkrieg und ihre Freundschaft mit dem russischen Revolutionsschriftsteller Victor Serge wachgerüttelt worden war, konzentrierte sich nun auf ihr Engagement bei der Résistance, arbeitete als Kurierin und versteckte jüdische Flüchtlinge. Weil Gallimard und andere Pariser Verlagshäuser unter dem Kommando der Nazis standen, bot sie Auf der Suche nach Marie dem kleinen Brüsseler Verlag Editions Libris an, der ihn 1943 veröffentlichte. Simone de Beauvoir, die ihre Arbeit sehr schätzte, entdeckte zwei immer wiederkehrende Themen in ihrem Werk: die Kluft, die sich nach der körperlichen Vereinigung zwischen Mann und Frau auftut, sowie die Liebe der Frau zu den Gegenständen der materiellen Welt, besonders im Zusammenhang mit der Hausarbeit. Dieses Thema inspirierte Beauvoir zu einer Erörterung in Das andere Geschlecht.


Fazit

Madeleine Bourdouxhe erzählt in Auf der Suche nach Marie von einer Frau auf dem Weg zu sich selbst, über den Umweg der Affäre mit einem fremden Mann, den sie nicht weiter kennenlernt, und eines intensiven Erlebnisses mit ihrer Schwester Claude. Edition fünf hat Auf der Suche nach Marie, in der >Bibliothek weiblichen Erzählens< neu veröffentlicht.


Pro und Kontra

+ subtiles Psychogramm einer modernen Frau
+ Lösung eines inneren Konflikts ohne Bewertung
+ sinnlicher Liebesroman, frei von Kitsch und Klischees
+ mit Fadenbindung und Leseband, in rotem Leineneinband mit weißer Prägung und rotem Vorsatzpapier

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5