Memento - Der Neubeginn (Julianna Baggott)

Lübbe Baumhaus (Juni 2014)
Originaltitel: Burn
Hardcover mit Schutzumschlag
464 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3833902840

Genre: Dystopie


Klappentext

Gibt es für die Überlebenden noch eine Chance?

Neun Jahre sind vergangen, seit die Bomben die Erde zerstörten und in einen Nebel aus Asche tauchten. Während die Überlebenden täglich mit den Folgen leben müssen, führt eine kleine Elite ein sicheres Leben im geschützten Kapitol.

Die 16-jährige Pressia ist eine der Überlebenden und versucht, in das Kapitol zu gelangen. Sie will mit den Reinen verhandeln, um eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Doch auf die Hilfe ihrer Freunde kann sie nicht zählen. Bradwell zieht sich von ihr zurück und schmiedet eigene Pläne. Und ihr Halbbruder Patridge ist in das Kapitol zurückgekehrt, wo er nach dem Tod seines Vaters die Führung übernommen hat. Pressia weiß nicht, ob sie ihm noch trauen kann, doch er ist ihre einzige Chance …


Rezension

„Ich will die verbrannte Welt. Ich will die Wahrheit. Können Sie sie für mich erschaffen? Mit Wind, Asche, Schmutz und schwarzen Wolken? Eine Welt aus verkohlten Trümmern?“ (Seite 56)

Patridge hat seinen Vater, der ihn töten wollte, ermordet und steht nun an der Spitze des Kapitols. Er möchte alles besser machen, doch schon bald muss er erkennen, dass er dieses riesige Lügengebäude nicht einfach durchdringen kann und weiterhin nur eine Spielfigur ist. Trotzdem ringt er sich dazu durch, den Kapitolbewohnern die Wahrheit zu sagen – sie haben sich selbst gerettet und die anderen zum Sterben zurückgelassen. Sein Vater ist kein Heiliger, er wollte die Welt zerstören und hat es geschafft. Patridge glaubt, nun würde sich alles ändern und eine Annäherung zwischen den Menschen im Kapitol und den Überlebenden sei möglich. Doch die Kapitolbewohner reagieren ganz anders, als er sich erhofft hat. Während manche weiterhin alles verleugnen, brechen über anderen die über Jahre aufgestauten Schuldgefühle zusammen und treiben sie teilweise sogar in den Selbstmord. Aufstände brechen aus, die Menschen können mit der Wahrheit nicht umgehen …

Währenddessen sind Pressia, Bradwell und El Capitán in Irland angekommen und treffen dort auf eine kleine Gruppe Überlebender. Sie schützen sich mit Hilfe von genmanipulierten Pflanzen, die sie selbst nicht angreifen, aber Eindringlinge fernhalten. Pressia hofft darauf, die fehlenden Komponenten für das Heilmittel, das sie von ihrer Mutter bekommen hat, zu finden und damit eines Tages alle Überlebenden reinigen zu können. Bradwelll, dem Pressia mit Hilfe des unfertigen Mittels das Leben gerettet hat, hat sich stark verändert: Die Vögel in seinem Rücken sind riesig geworden und er schleift ihre Schwingen hinter sich her wie ein dunkler Engel. Er verfällt in Depressionen und kann Pressia nicht verzeihen, was sie getan hat, doch er liebt sie immer noch. Und auch El Capitán liebt sie, sogar sein Bruder Helmud, der mit ihm verschmolzen ist, scheint etwas für Pressia zu empfinden. Doch ihre Gedanken gelten allein Bradwell.

„Ich war ein Unglückseliger, und dadurch war ich rein.“ (Seite 140)

Der Weg zum „Neubeginn“ ist steiniger, als man ihn sich je hätte vorstellen können. In der ersten Hälfte des Romans kann man sich den Titel kaum erklären, denn Pressia, Bradwell und El Capitán drohen früh an den Umständen ihrer Reise und an ihren Gefühlen zu scheitern. Vor allem zwischen Bradwell und Pressia regieren Eifersucht und Missverständnisse, allen voran das Unverständnis auf Pressias Seite für den Wunsch Bradwells nicht gereinigt zu werden. Sie will unbedingt den Puppenkopf, der mit ihrer Hand verschmolzen ist, loswerden. Pressia will rein sein, ohne Narben, ohne Verschmelzungen. Doch für Bradwell haben die Vögel in seinem Rücken zu ihm gehört, sie waren Zeugen der Wahrheit, die er unbedingt festhalten will. Mit den Veränderungen durch das Serum, das Pressia ihm gespritzt hat, als er so gut wie tot war, kann er jedoch nicht umgehen. Jetzt fühlt er sich wie ein Monster und in seiner Depression hat er kein Gefühl mehr dafür, dass er Pressia verletzt.

El Capitán hingegen muss mit Pressias Abweisung umgehen. Er bleibt für sie nur ein guter Freund, ebenso wie sein Bruder Helmud, der immer deutlicher als eigenständige Persönlichkeit zu erkennen ist. Auch El Capitán sieht inzwischen, dass Helmud eigene Gedanken und Gefühle besitzt und diese durchaus äußert. Man muss ihm nur richtig zuhören. So nähern sich die beiden Brüder, die immerhin miteinander verschmolzen sind, spürbar an und handeln erstmals als echtes Team. Doch El Capitán leidet nun auch unter den Grausamkeiten, die er Helmud und anderen Menschen angetan hat. Zu Beginn der Trilogie hat er noch zu jenen gehört, die andere Menschen jagten und die Schwachen wie Dreck behandelten und töteten. Doch durch Pressia hat sich seine Weltsicht verändern, er ist im Innern sanfter geworden und empfindet Reue.

Je länger Patridge im Kapitol weilt, desto stärker identifiziert er sich wieder mit den Bewohnern. Auch wenn sie die Überlebenden draußen einfach zurückgelassen haben, will er ihre Leben schützen und erkennt, dass die Reinen in der Aschewelt gar nicht überleben könnten. Ihr Immunsystem ist durch die Zeit im Kapitol zu geschwächt, es würde viele Opfer geben – darunter vielleicht auch sein Kind, das in Lydas Bauch heranwächst. Sie ist mit ihm ins Kapitol gekommen, doch Patridge muss sie verleugnen. Als Chaos ausbricht, lässt er sich darauf ein, den Bewohnern eine heile Welt vorzuspielen und ein Mädchen zu heiraten, das für ihn geschaffen wurde. Patridge verliert sich zunehmend in den Intrigen und Manipulationen um ihn herum. Die Angst vor seinem toten Vater und der Wunsch, keine weiteren Toten im Kapitol haben zu wollen, treiben ihn weg von der Vorstellung, dass Reine und Überlebende eine gemeinsame Zukunft haben.

„Jeder Krieg hat seine intimen Momente.“ (Seite 414)

„Der Neubeginn“ – diesem Titel wohnt etwas Positives inne, ein kleines Licht der Hoffnung, die Chance, noch einmal von vorne anzufangen und alles richtig zu machen. Doch bald wird der Leser eines Besseren belehrt: Die Charaktere scheitern an sich selbst und an ihrer Umgebung, sie lassen sich zu Taten und Gedanken hinreißen, die sie verabscheuen. Der Mensch hat aus der Geschichte nichts gelernt und die schrecklichen Ereignisse scheinen sich zu wiederholen. Am Ende kommt es zu einer Art Versöhnung, doch gleichzeitig gibt es in dieser Geschichte keine echten Sieger. Alle Protagonisten sind gezeichnet von zahllosen Entbehrungen und Lügen, von Missverständnissen und Täuschungen, vom nackten Kampf ums Überleben und um ihre Menschlichkeit. „Memento“ erinnert dabei an „Die Straße“ von Cormac McCarthy und transportiert ebenso tiefgreifende Botschaften, wenn auch in einem  sehr phantastischen und jugendlichen Rahmen.

Trotzdem ist diese Trilogie nur bedingt für junge Leser geeignet, denn Julianna Baggotts Schreibstil erfordert eine Reife, die Teenager selten mitbringen. Denn gerade in der jungen Zielgruppe brauchen die Leser Identifikationsfiguren und die gebrochenen Charaktere in „Memento“ können diesen Anspruch nicht erfüllen. Dazu unterscheidet sich die Welt, in der sie leben, zu sehr von unserem Alltag. Im Kontext dieser zerstörten Zukunft handeln die Protagonisten jedoch durchweg authentisch: Ihr harter Lebensweg hat ihnen eine innere Reife verliehen, die manch Erwachsener nicht besitzt,  gleichzeitig sind sie noch jung und reagieren emotional und unbesonnen. Sie sind manipulierbar und steigern sich in ihre Träume und Wahrheiten hinein. Einige haben bis zum dritten Band eine unvorstellbare Entwicklung hingelegt, haben aus ihren Kämpfen gelernt und machen dennoch kaum vermeidbare Fehler. Leider wird „Memento“ vom Verlag völlig falsch vermarktet, denn diese Trilogie passt nicht recht in die Sparte Jugendbuch.

„Wir dürfen die Vergangenheit nicht auslöschen. Selbst wenn sie uns entstellt.“ (Seite 445)

Letztlich bleibt das Gefühl zurück, trotz aller Grausamkeiten und aller schwer vorstellbaren, phantastischen Elemente, eine zutiefst menschliche Geschichte gelesen zu haben. Julianna Baggott zeigt uns die Menschen, wie sie sind:  grausam, ignorant und sich selbst belügend, aber auch freundlich, hilfsbereit und hoffnungsvoll. Hier werden alle Facetten des Menschen gezeigt und wie er im Angesicht seiner Erfahrungen und der jeweiligen Umstände richtig oder auch falsch handelt. Wer sich mit Geschichte etwas auskennt, vor allem was den ersten und zweiten Weltkrieg sowie den kalten Krieg danach betrifft, wird in „Memento“ einen phantastisch verzerrten Spiegel der damaligen Wirklichkeit sehen.


Fazit

„Der Neubeginn“ klingt hoffnungsvoll, ist jedoch letztlich genauso trist und grausam wie seine Vorgänger. Es tut weh, die Charaktere an den Umständen und an sich selbst scheitern zu sehen – doch nicht alle Hoffnung ist vergebens. Dieses Buch hält viele grausame, aber auch zutiefst menschliche Momente parat, die einen innehalten und nachdenken lassen. „Memento“ ist eine Dystopie, bei der während dem Lesen die Kehle ganz eng wird, bei der man auf Sätze stößt, die tiefe Wahrheiten enthalten und das eigene Weltbild erschüttern – und in der Charaktere handeln, die so gebrochen sind, dass man sie nur im Kontext ihrer aschernen Welt verstehen kann.


Pro & Contra

+ im Kern zutiefst menschlich
+ verstörende Endzeitatmosphäre
+ sehr bedrückend und düster
+ gezeichnete, gebrochene Charaktere
+ kreative, phantastische Ideen
+ bildgewaltige und dabei schlichte Sprache
+ wunderschöne Hardcoverausgabe

o Charaktere sind keine jugendlichen Identifikationsfiguren
o offenes, schmerzhaftes Ende

Wertung: sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5


Rezension zu "Memento - Die Überlebenden" (Band 1)

Rezension zu "Memento - Die Feuerblume" (Band 2)

Tags: Dystopie, Julianna Baggott, Postapokalypse