Venedig kann sehr kalt sein (Patricia Highsmith)

highsmith-venedig

Zürich, Diogenes 2006
Originaltitel: Those Who Walk Away (1967)
Übersetzt von Matthias Jendis
Nachwort von Paul Ingendaay
Editorische Notiz von Anna von Planta
Taschenbuch, 354 Seiten
€ 10,90 [D] | € 11,30 [A] | CHF 18,90
ISBN: 978-3-257-23412-1

Genre: Krimi


Inhalt

Nach dem Selbstmord seiner Frau auf Mallorca versucht der angehende New Yorker Galerist Ray Garrett seinem Schwiegervater Coleman immer wieder zu erklären, daß er ihren Tod nicht verhindern konnte. Als sie sich in der Badewanne die Pulsadern aufschnitt, war er bei einer Nachbarin. Ray hatte nicht einmal geahnt, daß Peggy sich umbringen wollte. Sie hatten weder materielle Sorgen noch Eheprobleme. Auch war sie nicht deprimiert und über Selbstmord hatte sie nie gesprochen. Peggy war romantisch, gefährlich romantisch.

Der Vater, der sie nach dem Tod der Mutter alleine aufzog, hatte sie von allem ferngehalten und überbehütet und so erwartete sie vom Leben einfach zuviel. Für den Selbstmord gibt es keinen konkreten Auslöser, nur Peggys allgemeine Enttäuschung vom Leben selbst. Trotzdem nagen an Ray Gewissensbisse. Dazu kommen die bitteren und ungerechten Vorwürfe des Schwiegervaters. Ray, der seit jeher an Minderwertigkeitskomplexen leidet, hat den inneren Drang, sich gegenüber seinem Schwiegervater zu rechtfertigen und ihn von seiner Unschuld zu überzeugen.


Rezension

Auch wenn es zu keinem Mord kommt, so ist dieses Kapitalverbrechen - das Lieblingsthema Patricia Highsmiths - doch das zentrale Motiv ihres Romans Venedig kann sehr kalt sein. Sie reduziert es psychologisch plausibel auf ein ganz und gar archaisches Motiv, auf reinen Hass, puren Rachedurst, schiere Verzweiflung; der Mord um seiner selbst willen, ohne finanzielle oder taktische Motive. Mörder und Opfer mit ihren Schuld- und Unschuldsneurosen sind in tödlichen Umklammerung aneinandergekettet durch eine Frau. Wieder einmal findet sich die für Highsmith typische Grundsituation: eine Frau steht zwischen zwei Männern (wie in Das Mädchen hinterm Fenster, Tod im Dreieck, Der Geschichtenerzähler, Der süße Wahn oder Die zwei Gesichter des Januars).

Aber diesmal hat sich die Frau zu Beginn der Erzählung bereits durch Selbstmord entzogen. Den Selbstmord allerdings sieht der Vater als Quasi-Mord. Im Spannungsfeld zwischen Schuld und Unschuld kommt es zum Vertauschen der Rollen von Opfer und Täter. Das unschuldige Opfer, das der Täter für einen Mörder hält und deshalb ermorden will, kann zum Täter werden. Potentiell ist Ray genauso in der Lage, einen Menschen zu töten, wie Coleman. Highsmith schildert eindringlich und genau, wie sich die beiden Männer aus Hass, Angst und Verzweiflung in einem Verwechslungsspiel mit immer wieder vertauschten Rollen gegenseitig in einem hochstilisierten Ritual belauern und verfolgen.

Immer schneller wechselt die Erzählperspektive, immer konzentrierter werden die Emotionen. Je dichter der psychopathische Hass und der menschliche Abstieg des einen ist, desto konkreter wird für den anderen die Befreiung von Neurosen und die Herstellung seines Selbstwertgefühls. Die Ungeheuerlichkeiten des Geschehens bettet die Autorin in die Banalitäten des Alltags ein, als seien die Ereignisse nur Trivialitäten. Sie erzählt distanziert kalt und seziert mit chirurgischer Genauigkeit. Spannend ist der Krimi allemal, denn das Ende ist nicht antizipierbar; ebenso raffiniert gestaltet Highsmith den Einstieg, indem sie das Mordmotiv und die Beziehung zwischen Opfer und Täter rückwärts abrollt.

Der Roman erschien 1968 bei Diogenes und 1970 bei Rowohlt als gekürzte Übersetzung von Anne Uhde. Die Neuübersetzung von Matthias Jendis ist vollständig. Am Rande vermerkt sei, dass die Frau ihren Suizid mit einer Aussage begründet, die später zum Titel einer James-Bond-Verfilmung wurde: „The World is not Enough“.


Fazit

Patricia Highsmith erzählt in ihrem zwölften Roman, Venedig kann sehr kalt sein, von zwei Männern, die durch Hass auf symbiotische Weise zusammengehalten werden und nahezu verschmelzen. Ein großartiges Beispiel für Literatur, die nicht einfach die Geschichte von zwei Männern erzählt, sondern zeigt, wie die Geschichte dieser zwei Männer in den Leerlauf gerät, in dem nichts geschieht, was die Protagonisten in irgendeiner Weise voranbringen würde.


Pro und Kontra

+ alptraumhafte Qualität
+ spannendes Katz-und-Maus-Spiel in und um Venedig
+ permanente Unterwanderung von Lesererwartungen

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


Personenbeitrag im Autorenregal

Rezension zu Salz und sein Preis

Rezension zu Die zwei Gesichter des Januars

Rezension zu Zwei Fremde im Zug

Rezension zu Der talentierte Mr. Ripley

Rezension zu Der Geschichtenerzähler

Rezension zu Ein Spiel für die Lebenden