Die zwei Gesichter des Januars (Patricia Highsmith)

highsmith zweigesichter

Zürich, Diogenes 2005, Neuveröffentlichung 2014
Originaltitel: The Two Faces of January (1964)
Übersetzt von Werner Richter
Nachwort von Paul Ingendaay
Editorische Notiz von Anna von Planta
Taschenbuch, 432 Seiten
€ 10,90 [D] | € 11,30 [A] | CHF 19,90
ISBN: 978-3-257-23409-1

Genre: (psychologischer) Thriller


Inhalt

Der vierzigjährige New Yorker Chester MacFarland ist ein Gauner, der sein Geld mit betrügerischen Börsengeschäften macht und unter diversen Pseudonymen agiert. Als seine Aufdeckung droht und es ihm den den Staaten zu heiß wird, zieht er kurzerhand seinen geplanten Urlaub vor und reist mit seiner jungen Fau Colette nach Griechenland. Sie quartieren sich in einem der vornehmsten Athener Hotels ein und absolvieren das übliche Touristenprogramm. Jeden Tag aber geht Chester zum "American Express". Dorthin schicken ihm seine Komplizen Mitteilungen über den Stand der Dinge. Es sieht nicht besonders gut aus für Chester. Eines Tages sucht ihn ein griechischer Polizeibeamter in seinem Hotelzimmer auf und präsentiert ihm ein Fahndungsfoto der US-Behörden. In Panik erschlägt Chester ihn. Als er die Leiche verschwinden lassen will, wird er von einem jungen Mann überrascht, Rydal Keener.


Rezension

In Die zwei Gesichter des Januars verarbeitet Highsmith eines ihrer Standardmotive, die Identitätsproblematik: falsche Pässe, falsche Rollen, Doppelgänger, Widerspiegelungen und Wiederholungen. Mit nur wenigen Andeutungen schafft sie es, dass der Leser Rydals irrationales Verhalten, Chester beim Verbergen einer Leiche zu helfen, akzeptiert. Rydal steckt in einer schweren privaten Krise und hat furchtbare Erlebnisse mit seinem Vater nie verarbeitet. Der Mann ist, obwohl gerade verstorben, immer noch ein Schreckgespenst für ihn. Chester ist nicht nur äußerlich ein Doppelgänger seines Vaters, Rydal findet in ihm auch verkörpert, was er an seinem Vater hasste: das autoritäre Gehabe, den Befehlston, die lässige Überlegenheit. An Chester will er seine Vergangenheit aufarbeiten, sich von dem dominanten Vater befreien, der sich durch Tod entzogen hat und ihn in Gedanken immer noch beherrscht.

Als Chester die Liebesbeziehung zwischen ihm und Colette, die altersmäßig viel besser zu ihm als zu Chester passt, zerstört, ist das für ihn die Wiederholung einer Jugendepisode, nur ist er diesmal nicht fünfzehn und wehrlos. Aus Rache folgt er Chester, er will ihn ängstigen, mit seinen Drohungen und Erpressungen in die Enge treiben. Es ist eine fast schon sadistische Bestrafungsaktion, mit der sich Rydal stellvertretend und nachträglich auch an dem Vater rächt. Als er gegen Ende Chester an die Wand gedrückt hält und im autoritären Ton anspricht, ist er der Rolle des wehrlosen Sohnes entschlüpft und hat sich emanzipiert. Schließlich kann er bei Chester sogar das, was er beim Vater nicht konnte.

Daneben läuft in enger Verknüpfung ein anderes Identitätsproblem. Im Romanverlauf verschmelzen Rydal und Chester, die aus Hass und Angst aneinandergekettet sind wie siamesische Zwillinge, zu einer Figur, beziehungsweise sie wechseln die Positionen, vertauschen ihre Rolle als Jäger und Gejagter. So kommt es zu einer Wiederholung der Verhöre: erst wird Chester von der griechischen Polizei verhört, dann Rydal von der in Paris; beide erzählen das gleiche, nur vertauschen sie ihre Rollen, geben jeweils eine Version zum Besten, die den anderen belastet. Das Erzählte ist schließlich nur noch ein Zerrbild der Realität. Beide treibt ein Rachemotiv voran, denn jeder schiebt die Schuld an Colettes Tod dem anderen zu. Sie beobachten einander genau, können sich in die Gedankenwelt ihres Gegenübers hineinversetzen und dessen Züge voraussehen, als gebe es ein unsichtbares Band zwischen ihnen.

Der Eindruck, dass sie zu einer Person verschmelzen, wird von Highsmith dadurch verstärkt, dass beide nie gemeinsam in den Zeitungen erwähnt werden. Beide wundern sich darüber und können es sich nicht erklären. Strukturell elegant gelöst teilt Highsmith die Kapitel "gerecht" auf die beiden Protagonisten auf, wechselt zwischen deren Perspektiven und suggeriert eine zunehmende Identität der beiden Protagonisten. Die unheimlichen Metamorphosen zweier aus dem Gleis geworfener Charaktere beschreibt Highsmith mit einer unaufdringlichen Intensität und genauso ruhig, wie sie das Zusteuern auf die schockartigen Katastrophen erzählt.

Vor der Neuübersetzung durch Werner Richter erschien der Roman in einer gekürzten Übersetzung von Anne Uhde unter dem Titel Unfall auf Kreta in drei Verlagen: im Jahr 1966 bei Rowohlt, 1974 bei Diogenes und 1978 im Aufbau-Verlag. Wolfgang Storch und Gabriela Zerhau verfilmten ihn 1985 als "Die zwei Gesichter des Januars". Eine Neuverfilmung durch Hossein Amini lief 2014 unter dem Originaltitel bzw. dem neuen deutschen Titel im Kino. Das Plakatmotiv der Hollywoodverfilmung wählte Diogenes für das Cover der Neuveröffentlichung des Romans.


Fazit

Patricia Highsmiths neunter Roman liest sich in Plot, Atmosphäre und Charakteren wie ein Ripley-Roman, was durchaus gefällt, ist Tom Ripley doch eine der interessantesten literarischen Serienfiguren. Die Geschichte eines Mörders, ein Thriller der Anfänge und Übergänge, ist getragen durch Amoral, Dekadenz und Eleganz - ein typischer Highsmith, kürzlich von Hollywood neu verfilmt mit Viggo Mortensen.


Pro und Kontra

+ bestechende Prämisse
+ grandioser Plot

Wertung: sterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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