Stuttgart 19.12.2014, Klett-Cotta
Originaltitel: Au revoir là-haut (2013)
Übersetzt von Antje Peter
Gebunden, 521 Seiten
€ 22,95 [D] | € 23,60 [A] | 33,90 CHF
ISBN: 978-3-608-98016-5
Genre: Historischer Roman
Rezension
Pierre Lemaitre, geboren am 19.4.1951 in Paris, ist freier Autor. Nach einer Reihe von Drehbüchern, Thrillern und Kriminalromanen, bei Ullstein erschienen Der kalte Hauch der Angst (2009) und Ich will dich sterben sehen (2012), veröffentlichte er 2013 den historischen Roman Au revoir là-haut (Wir sehen uns dort oben). Für diesen erhielt Lemaitre 2013 den Prix des libraires de Nancy Le Point, den Prix Goncourt, den Prix roman France Television und die Auszeichnung als Roman français préféré des libraires à la Rentrée.
Wir sehen uns dort oben beginnt in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs, als Leutnant Henri d’Aulnay-Pradelle seine Einheit in einen sinnlosen Angriff gegen die Deutschen schickt. Soldat Albert Maillard trifft dabei auf tote Kameraden mit Einschusslöchern im Rücken. Plötzlich wird er von Pradelle angegriffen und bei einem Granateinschlag verschüttet. Soldat Éduard Péricourt wird, während er Albert rettet, von einem Granatsplitter getroffen und im Gesicht schwer entstellt.
Der frühere Bankangestellte Albert und der künstlerisch veranlagte Édouard werden Freunde. Albert sorgt für den homosexuellen Édouard im Lazarett und in der Nachkriegszeit, beschafft ihm Morphium und eine neue Identität. Édouard will weder seine Familie wiedersehen, noch begibt er sich in die Hände plastischer Chirurgen. Die beiden Freunde leben von wenig Geld in einer heruntergekommenen Wohnung in Paris, bis Édouard einen Katalog mit Gefallenendenkmälern gestaltet. Sie bieten den Städten und Kommunen diese Denkmäler an, richten eine Scheinfirma ein unter dem Pseudonym Jules d’Épremont, auf ihrem Konto sammeln sich Millionen Francs vorab überwiesener Gelder an. Sie wollen Rache an der Gesellschaft, die sie benutzt und ihr Leben zerstört hat.
Zum Helden des großen Krieges wird man nur, wenn man für das Vaterland sein Leben gelassen hat. Mit den Überlebenden und ihrem Elend will man möglichst wenig zu tun haben. Die Menschen gefallen sich viel besser darin, statt Anteil am Schicksal der an Körper und Seele beschädigten Soldaten zu nehmen, eine reizvolle Buchung auf ihrem Emotionskonto vorzunehmen. Dies realisieren der aus einfachen Verhältnissen stammende naive Albert und Édouard, Spross aus einer reichen Familie, sehr schnell.
Wo Gelder zu vergeben sind, melden sich bald diejenigen, die, getrieben durch Korruption und Gier, ihren Anteil realisieren wollen. Hier wird der Roman zu einer politisch-wirtschaftlichen Universalsatire. Man steigert die Profite, wo es geht. Pradelle, mittlerweile Hauptmann, macht Geld mit der Umbettung Gefallener auf die neu eingerichteten Ehrenfriedhöfe und durch die Heirat mit Édouards Schwester Madeleine. Die Eheschließung erfolgt in Unkenntnis der Verwandtschaft Madeleines mit Pradelles ehemaligem Untergebenen.
Die berufliche Profitsteigerung gelingt Pradelle auf zwei Feldern. Einmal über Kostensenkung, indem er die Särge verkleinert. Er muss aber die Toten zerlegen, damit sie hineinpassen. Dann über Ausweitung des Angebotes durch Täuschung. Da die Nachfrage größer ist als das Angebot, Pradelle nicht so viele tote Franzosen findet, wie er umbetten könnte, füllt er Erde und unbekannte Tote, bisweilen nur Leichenteile oder deutsche Gefallene, in Särge und versieht sie mit Namen französischer toter Kriegshelden. Pradelle ist ein Kriegsgewinnler, ein sozialer Aufsteiger der Nachkriegszeit, der die Komik dem Grauen hinzufügt. Auf einer Nebenstraße der Handlung ist er auf der Suche nach den Zeugen seiner Kriegsverbrechen, die er ermorden will.
Lemaitre zeichnet eine Gesellschaft nach, die unter den Folgen des Ersten Weltkriegs leidet, zugleich aber zu großen Leistungen in der Lage ist, wenn es darum geht, seine Mitmenschen auszubeuten, neue Niederungen verkommener Moral für sich zu erschließen, sich selbst und andere zu korrumpieren. Und, nach dem großen Desaster, umso lauter zu rufen, und sei es nur nach innen: Jetzt komme ich!
Lemaitre erzählt die Handlung primär als eine Art Schelmengeschichte, die im Krieg und den Jahren danach spielt. Der Roman hat insoweit mehr gemeinsam mit Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch und Jaroslav Hašeks Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg, oder auch Yu Huas Brüder. Und so schrecklich und komisch wie die genannten Bücher liest sich auch Lemaitres Wir sehen uns dort oben.
Der Rhythmus der Erzählung basiert auf der Figurendynamik und wird akzentuiert durch Einschübe des Erzählers, der seine Figuren begleitet und alles über sie weiß, folglich auch ihre Zukunft kennt. Lemaitre erforscht Aspekte seiner Figuren, ihr Aussehen, Denken und Handeln. Er bereitet die Leser auf Dinge vor, die später von Bedeutung sein werden. So haftet er dem Grauen und der Komik bis hin zum Lächerlichen und Grotesken einen lebhaft frischen Erzählstil an.
Fazit
Pierre Lemaitres Wir sehen uns dort oben liest sich wie ein brüchiges literarisches Denkmal einer längst verlorenen Zeit, des Ersten Weltkriegs und der Jahre danach, und erzählt von Menschen, die Berge des Reichtums erklimmen und dabei menschliche Abgründe öffnen, aus denen sie sich selbst anblicken. In diesem herausragend erzählten Roman werden Seelenlandschaften in Trümmer gelegt – im Krieg wie im Frieden.
Pro und Kontra
+ gesellschaftskritischer Schelmenroman
+ geschmeidige Groteske
+ man liebt und hasst die Figuren, mal dieses, mal jenes, oft beides zugleich
Wertung:
Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5