Heyne Verlag (Dezember 2005)
336 Seiten, 09,00 €
ISBN: 978-3-453-67502-5
Leseprobe
Neuerscheinung im Dezember 2009 "Wahnsinn"
Genre: Horror / Thriller
Klappentext
Die USA in den 50er-Jahren. Nach außen hin eine heile Welt, doch inmitten der amerikanischen Vorstadtidylle wird ein Junge mit unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert. Jack Ketchum zeigt in seinem beunruhigenden, grenzüberschreitenden Horrorthriller die Abgründe der menschlichen Seele auf.
Rezension
Schon länger ist es her, dass „Evil“ veröffentlicht wurde, und noch länger liegen die wahren Begebenheiten, die den Autor zu diesem Buch inspirierten, zurück. – Doch vergessen sind sie nicht. Nicht für Jack Ketchum, der sie aufarbeitete und auch nicht für den Leser, der sich entschließt, sich an dieses Buch heranzuwagen.
Denn eines ist gewiss: „Evil“ ist verstörend, brutal und oftmals unerträglich.
David ist zwölf Jahre, lebt in einer Sackgasse und hat viele Freunde in der Nachbarschaft. Manche davon sind ihm teuer geworden, anderen läuft er in gewissen Momenten jedoch auch davon. Warum, kann er sich selbst nicht beantworten, doch im Grunde ist klar, die Temperamente in der Nachbarschaft sind mehr als nur verschieden. Eine Tatsache, die nicht nur längst akzeptiert ist, sondern auch hingenommen wird. Wie zum Beispiel bei Eddie, der ab und an gern mit einer toten Schlange zwischen den Zähnen durch die Nachbarschaft strolcht. Oder Ruth, die Mutter der Kinder von „Nebenan“, deren oftmals vulgäre Sprache die Kids beeindruckt kichern lässt.
Ruth gibt den Kindern Bier, lässt sie naschen, redet über anstößige Themen und bietet etwas, dass man bei strengen Eltern nie finden würde: unverfänglichen Spaß an Verbotenem. Ein Geheimnis zwischen ihr und den Kleinen. Eines, das sich – nachdem Meg und ihre Schwester Susan zugezogen sind – schließlich in einen Alptraum verwandelt, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.
David - aus dem Buch
Und wahrlich - Jack Ketchums Werk kann man nur als Alptraum bezeichnen. Einen, den der Autor nahezu perfekt in Szene zu setzen weiß. Anfänglich in ruhigem, leider auch leicht schläfrigem Tempo wird dem Leser eine trügerische Idylle vor Augen geführt. Ein Vorstadtleben, wie man es sich nur wünschen kann, aber vor allem: Wie Kinder es sich erträumen. Umgängliche Nachbarkinder, einen Fluss zum Krebse fangen, überall Gärten und jede Menge Freiheit, um Grenzen auszutesten. Was man zu Hause nicht bekommt (nämlich zuckerhaltige Cola, Bier, etc.), findet man mit tödlicher Sicherheit nebenan. Immer klarer wird dem Leser, wie "normal" die Umgebung ist und genau dies stimmt nachdenklich. Unweigerlich stellt man sich die Frage, hinter welchen "normalen" Häusern in der Nähe vielleicht ähnlicher Horror passiert? - In der nächsten Straße? In dieser? In diesem Haus?
Beklemmt von solchen Gedanken und einer schrecklichen Vorahnung liest man Seite um Seite. Anfänglich zweifelt man noch, ob dieses Buch tatsächlich die Bezeichnung des Genres "Horror" verdient, doch später bestätigt sich dieses auf grausamste Art: Hilflos muss man beobachten, wie zwei liebenswerte Mädchen vorerst ausgeschimpft, dann geschlagen, kurz darauf gequält und schlussendlich gefoltert werden. Immer wenn man denkt, es kann einfach nicht schlimmer werden, setzt der Autor nach, und schließlich muss man sich überwinden, diese Bösartigkeiten tatsächlich weiter miterleben zu wollen. Denn so "fern", wie man vorerst denkt, bleiben die Bilder nicht. Jack Ketchum schafft es mit gewöhnlich knapper Sprache alles auf den Punkt zu treffen. Das Fehlen an Wärme in der Geschichte sowie im Stil unterstreicht die manchmal perversen Handlungen noch und lässt den Inhalt dieses Buches zu einem grausamen Schrei im Ohr des Lesers verkommen. - Schauerlich schlimm und überzeugend real!
Einzig und allein Kritik verdienen die Charaktere. Zwar sind die Protagonisten nachvollziehbar - allem voran David, der es einfach nicht schafft, einzugreifen, und sogar gleichzeitig fasziniert ist, bis ihm das Unvermeidliche wahrlich bewusst werden kann -, doch scheitert es an den Nebendarstellern in moralischer Sicht geradezu bravourös. Woofer, Donny, Willie, Eddie und Denise, die Meg quälen, sind stets ohne erkennbaren Zweifel. Sie vergreifen sich an dem Mädchen, ohne Mitleid zu zeigen, verbrennen sie mit kochendem Wasser, schneiden ihre Haut auf, vergewaltigen und schlagen sie. Selbst als sie beginnen, ihr über den Bauchnabel "Ich ficke fick mich" einzubrennen, zeigen sie keinen Sinn für Unrecht und Qual. Zwar erklärt Jack Ketchum indirekt während des Buches den Schritt der Eskalation, des Wahns, und zeigt damit auf wirklich gelungene Weise, wie sich solche Taten nach und nach entwickeln könnten, ohne es wahrhaft zu wollen. Doch überzeugt hätte dieser Punkt besser unterstützt von Menschlichkeiten. So wirken die Kinder wie potenzielle Monster und gerade dies ist doch recht verwunderlich.
Zu Hilfe eilen gegen besagten Kritikpunkt die Tatsachen: Sylvia Likens (im Buch Meg) wurde tatsächlich über Wochen von mehreren Kindern zugerichtet. Und vielleicht ist so ein Verhalten wirklich durch nichts tatsächlich erklärbar. Schlichter Wahn? - Der Autor klärt diese Frage in seiner Interpretation jedenfalls nicht vollkommen auf und lässt damit im Leser ein unwohles Gefühl zurück. Vielleicht aber auch beabsichtigt.
Fazit
„Evil“ ist die perfekte, prosaische Krankheit, die bestimmt jedes Horror-Herz vor Freude jubeln lässt. Wer über schlimme Formen von Gewalt lesen kann, wird in diesem Buch eine besonders abgründige, jedoch simpel gestrickte Geschichte finden, die nachdenklich stimmt und das ohne Moral aufzwingen zu wollen.
Pro und Kontra
+ packender, psychologischer Horror
+ Hauptprotagonisten nachvollziehbar
+ erklärbare Ausuferung
+ zum Roman passende, unverblümte Sprache
o fiktive Aufarbeitung eines wahren Verbrechens
o oftmals schrecklich brutal
o grenzüberschreitend
- leicht langatmiger Einstieg
- Antagonisten nicht durchweg überzeugend
Bewertung:
Handlung 4 / 5
Charaktere: 3,5 / 5
Lesespaß: 4 / 5
Preis/Leistung: 3,5 / 5
Extra: Vorwort von Stephen King