Zürich, Diogenes 2002
Originaltitel: Strangers on a Train (USA, 1950)
Übersetzt von Melanie Walz
Nachwort von Paul Ingendaay
Editorische Notiz von Anna von Planta
Taschenbuch, 447 Seiten
€ 12,90 [D] | € 13,30 [A] | CHF 17,90
ISBN: 978-3-257-23401-4
Genre: Thriller
Inhalt
Der junge New Yorker Architekt Guy Haines macht im Zug die Bekanntschaft des Unternehmersohnes Charles Anthony Bruno. Ungefragt breitet Bruno seine persönlichen Verhältnisse vor Guy aus. Bruno hasst seinen reichen Vater, weil der ihn als Nichtstuer beschimpft und finanziell kurz hält. Bruno langweilt sich tödlich, hat keine Interessen. Nichts kann ihn mehr erschüttern in seiner Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber. Um die deprimierende Langeweile und Sinnlosigkeit aus seinem Leben zu vertreiben, reist und trinkt er reichlich. Aus Verzweiflung hat er einen Wohnungseinbruch verübt. Den größten Thrill aber verspricht er sich von einem Mord. Jeder, so seine These, könne einen Mord begehen, entscheidend seien nur die Umstände.
Guy ist von Brunos selbstzerstörerischer Dekadenz fasziniert und zugleich angewidert. Er hat ganz andere Sorgen. Er ist auf dem Weg ins texanische Metcalf, um mit seiner Frau Miriam, von der er sich wegen ihrer ständigen Fremdgeherei vor drei Jahren getrennt hatte, die Scheidung zu besprechen. Miriam ist der einzige Mensch, der sein neues Glück mit Anne und seine anlaufende Karriere als Architekt zerstören kann. Guy wundert sich über sich selbst, als er Bruno von seinem Problem erzählt. Bruno macht ihm das Angebot, Miriam umzubringen, wenn Guy im Tausch dafür Brunos Vater tötet. Niemand wisse von ihrer Zufallsbekanntschaft – dies verheiße perfekte Alibis.
Rezension
Patricia Highsmith hatte bereits Kurzgeschichten und zwei Romane geschrieben (von einem ging das Manuskript verloren, der andere wurde überall abgelehnt), als sie 1947 mit dem Roman Zwei Fremde im Zug begann. Am Anfang stand die Plotidee: Zwei Männer tauschen ihre Verbrechen aus, um den perfekten, weil motivlosen, Mord zu begehen. Der Roman wurde von sechs Verlagen abgelehnt, bis er 1950 veröffentlicht wurde. Eine Woche nach dem Erscheinen erwarb Hitchcock die Filmrechte. Highsmith bekam 6000 Dollar dafür. Hitchcock betraute Raymond Chandler mit dem Drehbuch, der aber erhebliche Probleme hatte, weil ihm der Roman nicht gefiel. Hitchcock ließ das Drehbuch von Czenzi Ormonde überarbeiten. Zwar hielt er es immer noch nicht für perfekt und die beiden Hauptdarsteller für zu schwach. Aber der Film wurde ein internationaler Erfolg und zählt zu den zehn besten des Jahres 1951. Highsmith war weniger begeistert, lobte zwar Hitchcocks Arbeit, vermisste jedoch die Komplexität der Intrige und das dramatische Ende, das zu einem Happy End umgestaltet wurde. Durch den Erfolg des Films wurde sie aus dem Stand zu einer der bekanntesten Schriftstellerinnen des psychologischen Kriminalromans.
Schon in Zwei Fremde im Zug zeigt Highsmith, dass sie nicht an der Polizeiarbeit und Detektion interessiert ist, sondern daran, wie ein gewöhnlicher Mensch sich seiner Instinkte bewusst wird und sich zum Verbrecher entwickelt. Gemäß ihrer Theorie kann jeder Mensch zum Verbrecher werden, es muss nur eine Schwäche vorhanden sein. Bei dem scheinbar normalen Guy ist diese Schwäche der heimliche Wunsch, Miriam zu töten, sonst würde er sich nicht von dem krankhaften Bruno beeinflussen lassen und von Schuldgefühlen geplagt werden wegen des Mordes an Miriam, den Bruno als Stellvertreter für ihn begangen hat. Beide Männer gehen im Verlauf der Handlung eine Symbiose ein, die nur der Tod auflösen kann. Sie werden zu Doppelgängern, die jeder das Gute und das Böse in sich tragen.
Highsmith zeigt bereits in diesem frühen Roman mit viel psychologischem Gespür, wie ein normaler Mensch zum Mörder wird und wie leicht es ist, aus der gesicherten Alltäglichkeit in die Abgründe des Irrationalen zu fallen, ohne sich dem entziehen zu können. Warum Guy nicht zur Polizei gegangen ist, dies ist eine häufig gestellte Frage. Ja, das sei eine gute Frage, ist Highsmiths Kommentar. Der Mensch, der glaubt, alles mit Logik erklären zu können und im Griff zu haben, lebt in einer künstlicheren Welt als die Figuren von Highsmith, die in einer scheinbar rationalen Kunstwelt leben, bis ganz schnell das Unvorhergesehene, Irrationale, Verrückte über sie hereinbricht und ihnen das beklemmende Gefühl des Ausgeliefertseins gibt. Auch wenn Highsmith keine bildhafte Sprache mag, so ist der Ausgangspunkt, die erste Begegnung der beiden Männer, der Zug, eine gelungene Metapher für die Machtlosigkeit, das eigene Schicksal zu bestimmen. Es sind „die kleinen, unwichtigen Leute“ (S.26), wie sie im Roman genannt werden, die Highsmiths Phantasie anfeuern und ihre Geschichten bevölkern.
Der Roman erschien 1967 bei Rowohlt unter dem Titel Alibi für zwei und 1974 bei Diogenes als Zwei Fremde im Zug in gekürzter Übersetzung von Anne Uhde. Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist vollständig. Am 14.01.2015 wurde bekannt gegeben, dass David Fincher und Ben Affleck an einer Verfilmung des Stoffes arbeiten.
Fazit
Patricia Highsmith erzählt in Zwei Fremde im Zug von der Zufallsbegegnung zweier Männer, die beide jemanden loswerden wollen und ein Gespräch führen, aus dem sich Verbrechen und innere Konflikte ergeben. Ein atmosphärischer und verstörender Paranoia-Thriller, der außer der Prämisse mit Alfred Hitchcocks Verfilmung nicht viel gemeinsam hat.
Pro und Kontra
+ spannender Psycho-Thriller über Paranoia
+ intelligente Reflektion über das Sympathiekonzept
Wertung:
Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5
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