Das Herz ihrer Tochter (Jodi Picoult)

Verlag: Piper, September 2009
Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
HC, 480 Seiten, € 19,95
ISBN 978- 3492053006

Genre: Belletristik


Klappentext

Wie würde ich handeln, wenn es meine Tochter wäre?
June Nealon war eine glückliche Frau. Bis Shay Bourne in einem einzigen Augenblick ihrem Glück ein Ende bereitete. Für den Mord an ihrem Mann und ihrer ersten Tochter erwartet Bourne nun die Todesstrafe. Doch mit einer ungeheuerlichen Tat will er das Leben ihrer zweiten Tochter retten und alles wieder gutmachen.


Die Autorin

Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Hanover, New Hampshire. Sie gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. „Das Herz ihrer Tochter“ schoss in den USA sofort nach Erscheinen auf Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste.


Rezension

Nach Neunzehn Minuten, ein bewegender und höchst zeitgemäßer Roman über den Amoklauf an einer Schule – so der Klappentext –, hier nun das neueste Werk von Jodi Picoult. Wieder packt sie brisante Themen an – die Todesstrafe und die Organspende. Und nicht zu vergessen den Glauben. Der christliche Glaube, der jüdische Glaube, das Thomasevangelium – hier werden sie alle vorgestellt, miteinander verglichen und es wird endlos darüber diskutiert. Kann sie damit an ihren Erfolg anknüpfen? Ganz eindeutig nein, kann sie nicht, das Buch ist eine Mogelpackung, wenn man es nach dem Klappentext kaufen würde.

Das Buch ist sehr unrealistisch. Shay Bourne wird verurteilt, weil er June Nealons Tochter Elisabeth und ihren Mann Kurt umgebracht hat. 11 Jahre später will er sein Herz, nachdem er hingerichtet wurde, Junes Tochter Clare, die schwer herzkrank ist und auf ein Spenderherz wartet, spenden. Wiedergutmachung? Schuldgefühle? Das würde doch nur am Opfer direkt funktionieren, und die Opfer sind zu Asche geworden. Und war überhaupt Shay der Schuldige? Obwohl er schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt wurde, hat Shay die Morde nie direkt zugegeben, er war in seinem eigenen Prozess nie im Zeugenstand.

Anfangs wird nie gefragt, ob ein Männerherz überhaupt in einen Kinderkörper passt. Und was ist mit der Verträglichkeit, wie Blutgruppe und was halt noch alles übereinstimmen muss? Nie wird das in Frage gestellt, gefragt wird nur, ob June das Herz annehmen würde. Aber hat sie das zu bestimmen? Und hat Clare da nicht auch noch mitzureden? Oder gibt es vielleicht noch andere Spender, zu denen das Herz besser passen könnte? Wer entscheidet denn schlussendlich, wer eine Organspende bekommt? Fragen über Fragen, sie tauchen im ganzen Buch immer wieder auf und hinterlassen ein etwas mulmiges Gefühl. Man wundert sich über June und Clare, dass es ihnen so wichtig ist, wer der Spender ist. Will Clare wirklich lieber sterben, als das Herz des Mörders ihrer Schwester zu nehmen?

Man erfährt auch nie, wovon die beiden überhaupt leben. Clare ist schwer krank und June ist immer an ihrer Seite, zu Hause und auch im Krankenhaus. Aber über ihr Einkommen wird nie geredet.

Die Wandlung Shays ist auch nicht nachvollziehbar. Wird er bei der Verurteilung noch als in seiner Entwicklung zurückgeblieben geschildert, so kann er elf Jahre später Wunder vollbringen und geistreich über Gott und die Welt diskutieren. Die Geschehnisse in dem Hochsicherheitstrakt passen auch nicht zu dem eigentlich ernsthaften Thema, sie machen das Buch unglaubwürdig und lächerlich. Diese kleinen angeblichen Wunder passen einfach nicht in die Geschichte, für nicht alle gibt es hinterher eine logische Erklärung. Shay wird als der wieder auferstandene Messias gefeiert, Menschen pilgern zum Gefängnis, um sich heilen zu lassen. Man denkt sofort an Scharlatane und die anderen angeblichen Wunder, die zu Pilgerstätten geworden sind. Leider lenkt das alles von den eigentlichen Themen, die durchaus diskussionswürdig sind, ab und bringt eine ungewollte lächerliche Stimmung ein.

Besonders interessant ist die Sicht des ehemaligen Geschworenen in Shays Prozess und jetzigen Priesters, Michael, der sich für Shay einsetzt. Hat er damals gegen sein Gewissen der Todesstrafe zugestimmt? Und sind die Menschen, die die Todesstrafe verhängen, auch Mörder? Sind sie vielleicht gar nicht mal besser, als die, die verurteilt wurden und im Gefängnis sitzen? Und was macht einen Menschen zum Mörder? Das und die Philosophie der Religion sind die Knackpunkte des Romans, sie regen zum eigenen Nachdenken an und werden einfühlsam eingebracht.

Aber trotzdem, der Hauptteil des Buches handelt von Religion. Christen, Juden, Atheisten, Agnostiker, alle kommen zu Wort und man erfährt auf seitenlangen Diskussionen die Unterschiede. Genauso seitenlang wird über die Religion philosophiert, über den Glauben, die Vergebung und ob man um jeden Preis verzeihen sollte. Das Thomasevangelium wird detailliert vorgestellt und durchdiskutiert, nach der Lektüre weiß auch jeder Leser, was ein Agnostiker denn nun genau ist. Selbst in den Namen schlägt sich die Religion und Jesus wieder, Shay heißt eigentlich Isaiah Matthew Bourne, I.M. Bourne – I am born, der Priester heißt Michael, Shay ist aufgewachsen in Bethlehem und der Commissioner, der für die Hinrichtung zuständig ist, heißt Joe Lynch.

Die Sichtweise wechselt ständig, jedes Kapitel wird von einer anderen Person erzählt. Das ist besonders interessant, da man so Einsicht in die Denkweisen fast aller handelnden Personen bekommt – abgesehen vom Mörder.

Das Ende birgt noch einige Überraschungen, aber manche kann man auch schon von Anfang an erahnen. Shay wird viel zu schnell verurteilt, die Fakten sprechen gegen ihn, aber er wird nie angehört. Eine ziemliche Verkettung unglücklicher Umstände.

Der Einblick in den Prozess der Todesstrafe ist höchst interessant, man erfährt, wie sie abläuft und wer alles daran beteiligt ist. Es sagt sich alles so leicht, einen Menschen zum Tode verurteilen – aber wie fühlen sich diejenigen anschließend, die zum Tode verurteilt haben? Was empfinden die Angestellten, die die Todesstrafe vollstrecken müssen? Ist es wirklich die gerechtere Strafe, als lebenslänglich im Gefängnis zu sitzen? Man bekommt auch genaue Einblicke über das Leben der Häftlinge im Hochsicherheitstrakt, einfach ist es dort bestimmt nicht. Und nach Statistiken im Buch kostet der Vollzug der Todesstrafe dreimal so viel wie lebenslängliches Einsitzen. Man kann nur hoffen, dass nach dem Lesen die Diskussion über die Todesstrafe wieder in Gang kommt, immerhin wird sie in einigen Staaten der USA ja noch vollzogen und als Strafmöglichkeit in Betracht gezogen.

 


Fazit

Ein Plädoyer für Vergebung und ein gehöriger Anstoß zur Diskussion der Todesstrafe. Wer allerdings nach dem Klappentext eine rührende Geschichte erwartet, der sollte hier nicht zugreifen, denn das Thema ist eher zweitrangig. Wer sich aber gerne genauer über Religion informieren möchte und Spaß an philosophischen Diskussionen hat, mit ein bisschen Brisanz und aktuellen Themen dazwischen, für den ist das genau das Richtige. Leider hat Jodi Picoult mit einigen Themen gehörig übertrieben, das Buch schweift vom eigentlichen Inhalt ziemlich ab und man hat ständig das Gefühl, mit aller Gewalt bekehrt zu werden. Gewohnt gut geschrieben ist es auf jeden Fall, aber durch den seelsorgerischen Ansatz auch ziemlich langatmig.


Pro und Contra

+ ständige Perspektivenwechsel
+ interessante Charaktere
+ hochbrisante Themen
+ überraschende Wendungen
+ regt zum Nachdenken an

- langatmig
- unrealistisch
- die Wandlung einiger Personen ist nicht nachvollziehbar
- unglaubwürdige Ereignisse
- das eigentliche Thema kommt zu kurz
- zu viel Religion

Wertung:

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 3/5


Rezension zu "19 Minuten"

Rezension zu "Beim Leben meiner Schwester"

Rezension zu "Bis ans Ende aller Tage"