Das sterbende Tier (Philip Roth)

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Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004
Originaltitel: The Dying Animal (2001)
Übersetzung von Dirk van Gunsteren
Taschenbuch, 168 Seiten
€ 7,99 [D] | € 8,30 [A] | 15,00 CHF
ISBN: 978-3-499-23650-8

Genre: Belletristik


Rezension

Erzähler und zentrale Figur des Romans ist David Kepesh, der diese Doppelrolle bereits in zwei früheren Werken Philip Roths ausfüllt, in Professor der Begierde und Die Brust. Das sterbende Tier arbeitet mit zwei Zeitlinien. Die Hauptgeschichte wird von dem inzwischen 70-jährigen Kepesh erzählt. Es ist die Geschichte der obsessiven Liebe eines älteren Mannes zu der sehr viel jüngeren Consuela. Unterbrochen wird sie von Erinnerungen an andere Affären, Assoziationen und philosophischen Diskursen zum Thema Sexualität. Die zweite Ebene ist die der „realen Zeit“ des Erzählens.

Kepesh erzählt, wie der Leser bald feststellt, die Geschichte bei einer einzigen Gelegenheit, an einem Abend Ende Januar 2000 in seiner Wohnung. Zuerst scheint er sich an den Leser zu wenden, doch bald wird klar, dass sich der Adressat im Text befindet, denn Kepesh spricht immer wieder seinen Zuhörer an. Zwischendurch verlässt er das Zimmer, um zwei Telefonate entgegenzunehmen, ein unwichtiges und eines, auf das er seit drei Wochen wartet. Es ist ein Anruf der Frau, von der seine Geschichte handelt. Der Zuhörer kommentiert und fragt mitunter, allerdings nur indirekt, was an Kepeshs Reaktionen zu merken ist. Erst am Ende, nachdem Kepesh das wichtige Telefonat geführt hat, meldet sich der Zuhörer direkt zu Wort. Die zweite Ebene ist im Präsens erzählt, aber Kepesh verwendet in seinem langen Monolog, der den Großteil des Buches ausmacht, ebenfalls mitunter das „historische Präsens“, um dem Vergangenen den Anschein des Gegenwärtigen zu geben, wie in der Beschreibung von Consuelas erstem Auftritt.

Im Jahr 1992 beginnt die Affäre, Kepesh ist 62 Jahre alt und fühlt bereits sein Alter. Seine Vollzeitprofessur hat er aufgegeben, er bietet nur noch jedes Semester das Oberseminar „Praktische Kritik“ an, das vor allem von Studentinnen besucht wird, die ihn bewundern, denn wegen seiner regelmäßigen Buchrezensionen im Hörfunk und wöchentlichen Auftritte als Kulturkritiker bei Channel Thirteen ist er eine lokale Berühmtheit. Kepesh hat es sich angewöhnt, jedes Semester mit einer seiner Studentinnen eine Affäre zu beginnen. Aber er hat auch eine eiserne Regel, seit er Mitte der achtziger Jahre die Notrufnummer für Opfer sexueller Belästigung an seiner Bürotür fand, denn er will keine Schwierigkeiten bekommen. Erst nach dem Ablegen der Prüfungen lädt er die Studenten zu einer Party in seine Wohnung ein. Eine Studentin bleibt immer bis zum Schluss, mit der geht er dann ins Bett.

In diesem Semester ist seine Auserwählte Consuela Castillo, wohlerzogene Tochter reicher Exilkubaner aus Bergen County. Mit 24 Jahren ist sie etwas älter als ihre Kommilitonen, aber sexuell noch relativ unerfahren. Sie ist ernsthaft, interessiert sich für Kunst, hat aber wenig Ahnung davon. Sie möchte, dass er sie in diese Welt einführt, ihr zeigt, Kunst richtig zu würdigen. Vor einem Beischlaf muss er ihr seine Reproduktionen von Velázquez zeigen, sein wertvolles Kafka-Manuskript, sie ins Theater ausführen oder ihr klassische Musik vorspielen. Um Consuela an sich zu binden, will er zumindest zeigen, wer im Bett der Lehrer ist. Er bringt sie dazu, die Kontrolle über sich zu verlieren. Doch ironischerweise ist dies der Beginn ihrer Dominanz über ihn. Consuela verehrt ihn vielleicht und bewundert ihn wegen seines Intellekts und seiner kulturellen Bildung. Aber sie begehrt ihn nicht. Er hingegen verfällt ihr in obsessiver Liebe und unstillbarer Sehnsucht. Er lebt in ständiger Angst, sie an einen jüngeren Mann zu verlieren.

Während Consuela die Welt der Kultur bewundert, in der er lebt, und seine Autorität als Kunstkenner, bewundert er sie wie ein Kunstwerk. Sie treffen sich bis zweimal wöchentlich in seiner Wohnung, nie in der Öffentlichkeit, weil Consuela nicht in die Klatschspalten geraten möchte, ihm die kulturellen Vorspiele lästig sind und er nicht mit den virilen jungen Kubanern aus Consuelas Kreisen zusammentreffen möchte, die seiner Geliebten seiner Ansicht nach den Hof machen. Der Roman hat ein ambivalentes, unbestimmtes Ende. Es bleibt offen, ob Kepesh geht. Doch wenn er geht, wirft er alles hinter sich, was er auf den letzten 158 Seiten propagiert hat.

In die Geschichte über Consuela sind immer wieder essayistische Ausführungen eingestreut, die einen ideologischen Kontext herstellen. Kepesh sieht sich als Kind der sexuellen Revolution der sechziger Jahre. Er befreit sich von den Konventionen seiner Zeit, den Regeln und Gebräuchen, die ihn einschränken. Er erreicht einen Zustand für sich, in dem die Gesellschaft keine Macht mehr über ihn hat. Er nimmt die Werte der sexuellen Revolution ernst. Seine Helden sind Don Juan, Casanova, Henry Miller und Thomas Morton, der zusammen mit Indianern eine Kommune in Neu England gründete und mit seinen heidnischen Orgien die Puritaner entsetzte.

Seine Frau warf ihn aus dem Haus, als sie seine Affäre mit einem der Mädchen entdeckte, aber er hat deshalb keine Schuldgefühle, denn auch die Ehe ist für ihn wie jede Konvention ein Feind freier sexueller Entfaltung. Kepesh kennt auch keine Schuldgefühle oder Verantwortung gegenüber anderen, sondern rechtfertigt sein sexuelles Verhalten mit einer Lebensphilosophie, die sexuelle Freiheit mit persönlicher Freiheit gleichsetzt. Dabei geht er zurück bis zu den Gründungsvätern, zieht Tocqueville heran, die Unabhängigkeitserklärung, die Bill of Rights, die Gettysburg Address, die Proklamation zur Skavenbefreiung und den vierzehnten Verfassungszusatz.

Vertreter der Gegenposition ist Kepeshs Sohn Kenny, der seinem Vater vorwirft, die Kleinfamilie zerstört zu haben. Kenny hat nur geheiratet, weil seine Freundin damals schwanger war. Mit 42 Jahren ist er seiner Frau überdrüssig. Er hat eine Geliebte, für die er seine Familie verlassen will. Seine Skrupel, die Kinder im Stich zu lassen, langweilen Kepesh, und sein Wunsch, die Geliebte zu heiraten, erschüttert ihn. Kenny und Kepesh sind Vertreter widerstreitender Ideologien. Beide geraten in eine Identitätskrise. Welcher Weg der richtige ist, bleibt offen; vielmehr zeigt Roth, dass es nicht den richtigen Weg gibt.


Fazit

Philip Roth entwickelt in Das sterbende Tier einen Diskurs über Männlichkeit und Vergänglichkeit, eine lesenswerte Analyse männlicher sexueller Impulse, die losgelöst sind von Liebe und Bindung, er erzählt an der Oberfläche von einem Professor, der seine Position und seine Macht sexuell nutzt.


Pro und Kontra

+ intelligente und empathische Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Bindung und Freiheit, mit dem Thema sexuelle Liberalisierung und deren Nebenwirkungen
+ Roth spricht unbequeme Wahrheiten über Sexualität aus

Wertungsterne5

Inhalt: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5