Kind 44 (Tom Rob Smith)

Dumont Buchverlag (Januar 2008)
512 Seiten, 19,90 €
ISBN: 978-3-8321-8056-0

Genre: Thriller


Klappentext

Moskau, 1953. In der Stadt wird auf den Bahngleisen die Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Nackt. Fürchterlich zugerichtet. Doch in der Sowjetunion der Stalinzeit gibt es offiziell keine Verbrechen. Und so wird der Mord zum Unfall erklärt. Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow jedoch kann die Augen vor dem Offenkundigen nicht verschließen. Als der nächste Mord passiert, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln und bringt damit sich und seine Familie in tödliche Gefahr.


Rezension

Debüt-Romane sind eine Sache für sich. Manche gelingen, andere zeigen überzeugendes Potenzial. Wenige jedoch schaffen mehr als das. Sie verzaubern, entführen, locken und lassen nicht mehr los. Eines jener ist Tom Rob Smith gelungen und das außergewöhnlich gut. Zum Zerreißen spannend erzählt der britische Autor eine Geschichte, die zu schockieren weiß. Ihre Eckpunkte? – Mord. Überwachung. Misstrauen.
Und unerbittliche Gewalt ...

>> Nichts ist störrischer als die Wahrheit. Deshalb hasst ihr sie so. Sie beleidigt euch. Meine Unschuld beleidigt euch, weil ihr wollt, dass ich schuldig bin. Und ihr wollt, dass ich schuldig bin, weil ihr mich verhaftet habt. <<
aus dem Buch

Russland im 20. Jahrhundert. Zur Zeit Stalins beherrschen Kontrolle und Furcht den Vielvölkerstaat. Eine Tatsache, die es als überlebenswichtig erscheinen lässt, in der Masse unterzugehen, denn jeder, der auffällt – jeder Einzelne – begibt sich damit in Lebensgefahr. Leo Demidow, gefeierter Staatsheld und karrierebewusster Geheimdienstoffizier, ist sich dessen nicht nur bewusst, sondern kennt jede Gefahr des Systems peinlichst genau. Rücksichtslos verfolgt er antisowjetische und konterrevolutionäre Individuen. Ihr Untergang ist seine Lebensversicherung.

Dass es manchmal auch Unschuldige erwischt, nimmt er in Kauf, denn einer seiner vorgegebenen Leitsätze besagt „Besser zehn Unschuldige leiden, als ein Spion entkommt.“
Bis plötzlich bald darauf das Unvorstellbare passiert ...

Mit „Kind 44“ hat Tom Rob Smith einen Roman geschrieben, der tief in die dunkle Vergangenheit Russlands dringt. Äußerst gekonnt und sehr authentisch schildert er - durch Leo Demidows Augen - die gesellschaftlichen Umstände eines kommunistischen Landes, in dem Kriminalität nicht existiert – Irrtum ausgeschlossen. Bürger, die Gegenteiliges behaupten, stellen eine Gefahr für die öffentliche (Schein)Ordnung da und werden mundtot gemacht. Ob mit Hilfe von Drohungen oder des Gulags (Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager) selbst. Vom ersten Schritt der Verdächtigung – die allein durch eine belangloswirkende Bemerkung gefasst werden kann – bis zu Verfolgung und Exekution Unschuldiger bringt der Autor die Vorgehensweisen des Polizeiapparates näher und vermittelt damit, welcher psychologischen Gewalt sich die Bevölkerung damals ausgesetzt sah.

Gewalt, die sich auch durch rohe Brutalität zeigen konnte und somit ebenso vertreten ist. Gerade in diesem Punkt kann und muss man einiges erwarten. Tom Rob Smith beschönigt nichts und hat in vielerlei Dingen seine Phantasie sehr gut spielen lassen. Auch bei seinen Charakteren. Leos Wandlung vom "Prunkstück der Gesellschaft" zum "Staatsfeind Nr. 1" ist gut gelungen und nachvollziehbar. Ebenso die Gefühle seiner Frau. Sie bringt im letzten Teil des Romans noch etwas Leben und weibliche Intuition ein, um die Geschichte auch weiterhin voranzutreiben und inhaltliche Krimi-Lücken zu füllen.

Neben Action, Spannung und dem glaubhaft geschilderten Alltag eines kommunistischen Überwachungsstaates sprechen des weiteren die gut verpackten Thriller-Elemente für sich. Es ist beinahe unmöglich, Langeweile zu empfinden in dem Netz aus Intrigen, politischen Machenschaften und den Aufklärungsversuchen, die Leo und Raisa bald darauf auch umherreisen lassen. Anfangs wirken diese einnehmend interessant, verlieren jedoch leider mit der Zeit an Faszination. Zu sehr leuchtet das Konstrukt zwischen den Zeilen hervor. Der schale Nachgeschmack, der dadurch entsteht, ist bedauerlich, und auch die Fragen, die am Ende übrig bleiben, sowie der Schein von einer heilen - viel zu heilen - Welt. Es in bestimmten Berreichen so völlig wieder gut werden zu lassen, kann nicht überzeugen. Dafür wird das Ende zu schlicht und zu schnell abgehandelt. Ein Manko, über das man sich in Erwartung des zweiten Bandes "Kolyma" jedoch gut hinwegtrösten kann.


Fazit

„Kind 44“ ist ein wirklich beachtenswerter Thriller und ein noch viel bemerkenswerteres Debüt! Tom Rob Smith hat Außergewöhnliches geleistet und ein Werk geschrieben, wie man es gerne liest. - Ohne Längen, voller Spannung und mit dicht ausgearbeiteten Hintergrund! - Für jeden Leser mit ernsthaftem Interesse an Russland und Stalin in jedem Fall ein Muss, aber auch Thriller-Fans kommen, sofern sie kleine Schwächen zu verzeihen wissen, auf ihre Kosten.


Pro und Kontra

+ sehr temporeich und packend
+ interessante Protagonisten
+ sprachlich stimmungsvoll und überzeugend
+ authentisch
+ wunderschönes Hardcover

o zeitweise blutrünstig

- unpassendes Ende

Bewertung:

Handlung: 4 / 5
Charaktere: 4,5 / 5
Lesespaß: 4,5 / 5
Preis/Leistung: 4,5 / 5


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