Dieter von Reeken, Lüneburg 15.04.2015
Herausgegeben von Dieter von Reeken
Mit einem Beitrag von Heinz J. Galle
Gebunden, 493 Seiten
€ 35,00 [D]
ISBN: 978-3-940679-94-9
Genre: Abenteuer, Mystery
Inhalt
Atalanta ist die letzte Überlebende vom Stamm der Mohawk. Das Indianervolk wurde vernichtet, Atalanta konnte von ihrer Mutter als Baby in Sicherheit gebracht werden. Die Mutter kam ums Leben, die Tochter wurde von einer Bärin als fünftes Junges aufgezogen und von einer Gruppe Gelehrter und Jäger in der Nähe des Sklavensees gefunden. Signor Antonio Ramoni, der Leiter eines Wanderzirkusses, nahm sie auf und bildete sie als Artistin aus.
Atalanta ist die große Attraktion im Zirkus Ramonis. Ob als Rechenkünstlerin, Artistin oder Kraftsportlerin, sie ist von ihren Konkurrenten aus dem Publikum nicht zu schlagen. Wer sie im Ringkampf besiegt, den wird sie heiraten, oder der Sieger erhält von Ramoni 10.000 Dollar. Graf Arno von Felsmark, dem Champion-Gentleman von New York, gelingt, woran niemand glaubte, und Atalanta wird seine Begleiterin. Atalanta ist Besitzerin des alten Mohawk-Gebietes und des im Sklavensee versenkten sagenhaften Schatzes der Mohawk. Eine Karte weist den Weg zu diesem Schatz. Eine Kartenhälfte befindet sich als Tätowierung auf Atalantas Rücken, die andere auf einem Stück Leder, das in Arnos Besitz gerät. Arno und Atalanta machen sich auf den gefährlichen Weg zum Sklavensee.
Rezension
Robert Kraft (1869-1916) war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einer der populärsten Autoren von Abenteuergeschichten. Die Kolportagegeschichten dieser Zeit waren oft genug und in vielerlei Hinsicht fortschrittlicher als der Mainstream. Vor allem das Frauenbild war, je nach Sichtweise, un(zeit)gemäß oder der Zeit voraus. Atalantas Name stammt von den alten Griechen, die Geschichte ihres Volkes reicht noch erheblich weiter zurück. Sie verliebt sich in einen weißen Mann, etabliert, adlig, wirtschaftlich unabhängig, überlegener Abenteurer. Früher noch als Indiana Jones und seine im Heldentum Verwandten wird sie zur Heldin einer fantastischen Abenteuergeschichte.
Atalanta wurde als Erzählung 1901 in "Payne's Illustrirter Familien-Kalender" publiziert und 1902 unter dem Titel Atalanta, die rote Athletin in "Reporter. Illustriertes Weltblatt", 1904 als Atalanta. Seltsame Erlebnisse eines jungen Deutschen in Amerika in der Heftreihe "Abendrot". Kraft arbeitete die Geschichte zu dem Kolportageroman Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees aus, der 1911 erschien. Eugène Sues Les mystères de Paris (Die Geheimnisse von Paris) erschien in 147 Folgen in den Jahren 1842 und 1843 in einer Pariser Tageszeitung (heute als Insel Taschenbuch erhältlich) und kann, wie auch Wilkie Collins’ Fortsetzungsroman The Woman in White (Die Frau in Weiß), vom 26.11.1859 bis zum 25.8.1860 in seiner Zeitschrift "All the Year Round" veröffentlicht, als wichtige literarische Vorlage dieser Geschichten gesehen werden.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich im Kino das Serial zu einem sehr erfolgreichen Konzept. Länger durchkonzipierte Geschichten wurden als Kapitel gestaltet und oft wöchentlich in den Filmtheatern gezeigt. Simultan konnte man sie in Printmedien nachlesen. Eine Haupthandlung durchzieht das Serial, dessen Episoden durch alle möglichen Formen von Cliffhangern miteinander verbunden sind. In diesen gerät zum Ende eines Kapitels die Heldin oder – gelegentlich - der Held in eine lebensbedrohliche Situation. Die dramatische Konstellation wird jeweils zu Beginn des nächsten Kapitels aufgelöst, Elemente des Suspense verfeinern den Ansatz.
Atalanta ist eine mysteriöse Figur, die nicht nur Objekt der Handlung ist, sondern diese auch – in anderen Momenten – in hohem Maße kontrolliert. Oft genug kann sie sich aus einer misslichen Lage befreien oder eilt auch Arno zu Hilfe. Sie bewegt sich also nicht auf einer sexistischen Einbahnstraße. Auch wird sie detektivisch tätig. Der Umgang mit Waffen bereitet ihr natürlich aufgrund ihrer Ausbildung keine Probleme. Sie ist zu einer Lebensgestaltung ohne Mann fähig, einer Bindung aber nicht abgeneigt, wenn der potenzielle Partner gewisse Anforderungen erfüllt. Zuerst einmal muss er sie im Zweikampf besiegen, damit sie ihn überhaupt ernst nehmen kann.
Arno und Atalanta sind auf ihrem Weg zwei fortdauernden Bedrohungen ausgesetzt, die das Spektrum von Belästigung bis Tötungsabsicht abdecken und sich durch Gewalt sowie einen erheblichen Einfallsreichtum seitens Krafts auszeichnen. Die Gräfin Miss Marwood Morgan, Erbin eines dreistelligen Millionenvermögens, begehrt Arno in einer Einbahnstraße der Gefühle. Sie schreckt auch vor seiner Entführung einschließlich der Inszenierung seines Ablebens nicht zurück, um ihn für sich haben zu können.
Der üble Chirurg Professor Dodd, notorisch-berühmter Menschenschlächter und Sammler von Präparaten menschlicher Herkunft, der gerne dubiose, im Endeffekt tödliche, Verträge mit Alkoholikern schließt, will Atalanta und Arno lebend sezieren und anschließend einige Teile von ihnen seiner Präparatesammlung hinzufügen. Er versucht sie auf vielfältige Weise zu überrumpeln, was ihm gelegentlich gelingt und sie in prekäre Situationen bringt. Versuche, sie zu töten, misslingen selbstredend, erschöpfen sich in einfallsreichen Versuchsanordnungen. Im zeitgenössischen Buchprospekt wird Dodd beschrieben als phänomenaler Arzt, „der im Dienste der Wissenschaft vor keinem Verbrechen zurückschreckt“.
Die Modernisierung der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte zur Entwicklung eines veränderten Rollenverständnisses der Geschlechter. Bis zur „Neuen Frau“ der Weimarer Republik war es noch ein weiter Weg. Und der deutete sich früh in der Trivialliteratur und im Kino an. Das Serial war eines der wenigen kulturellen Artefakte, in denen die neue Frau der Moderne abgebildet wurde, die nach mehr Unabhängigkeit strebte, auch männlich codierte Qualitäten zu ihrem Repertoire zählte und sich in Sphären bewegte, die normaler Weise dem Mann vorbehalten waren. Vollkommen war diese Unabhängigkeit jedoch nicht, wurde am Ende doch die herrschende Gender-Norm wieder durchgesetzt.
Fazit
Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees ist eine Kolportagegeschichte, die auf unterhaltsame Weise Kriminalroman, Abenteuer- und Liebesgeschichte erzählt und mit Versatzstücken der Schauerromantik anreichert. Das Buch gibt einen interessanten Einblick in den seriellen deutschsprachigen Roman seiner Zeit.
Pro und Kontra
+ selbstständige und selbstbewusste Protagonistin
+ wahrhaft dämonischer Schurke
+ in Figuren und Handlungsorten international
+ temporeich und pointiert erzählt
+ neu gesetzter Text, editorische Eingriffe sind aufgeführt
+ enthält gute Reproduktionen sämtlicher Illustrationen der Originalausgabe
o ambivalente Leichtigkeit im Umgang mit den Figuren
- Milieu- und Charakterentwicklung – serialtypisch - nur in Ansätzen vorhanden
Wertung:
Inhalt: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5