Der Ozean am Ende der Straße (Neil Gaiman)

Eichborn (Oktober 2014)
Hardcover, 240 Seiten
ISBN-13 978-3847905790
€ 18,00 [D]

Genre: Fantasy

(Hinweis: gelesen in Deutsch und Englisch)


Klappentext

Es war nur ein Ententeich, ein Stück weit unterhalb des Bauernhofs. Und er war nicht besonders groß. Lettie Hempstock behauptete, es sei ein Ozean, aber ich wusste, das war Quatsch. Sie behauptete, man könne durch ihn in eine andere Welt gelangen. Und was dann geschah, hätte sich eigentlich niemals ereignen dürfen ...


Rezension

Als der namenlose Protagonist nach einer Beerdigung in seinem Auto durch die Gegend fährt, findet er sich in der Gegend wieder, in der er als kleiner Junge gewohnt hat. Im nächsten Moment bleibt er vor einem altertümlichen Haus stehen – das Hempstock Haus, wie er sich mit einem Mal erinnert. Hinter dem Haus ist ein Teich, von dem die kleine Lettie Hempstock behauptetet hatte, es sei ein Ozean. Aber das kann natürlich nicht sein, Ozeane sind viel größer! Er setzt sich auf die Bank am Teich und füttert die Enten und nach und nach kommt die Erinnerung zurück, an die Zeit, als er sieben war, an alles, was er erfolgreich verdrängt hatte.

Am besten taucht jeder selber in die Erinnerung ein und lässt sich in den Roman hineinziehen und berauschen und überspringt diesen Absatz. Allen zu Neugierigen sei verraten, dass alles mit einem Suizid beginnt. Das freiwillige Ableben eines verschuldeten, alten Mannes hinterlässt ein Loch in der Welt und ein Wesen, das außerhalb unserer Welt lebt, nutzt es, um den Menschen Geld zu schenken, auf sehr unangenehme Art und Weise. Als der Junge aufwacht und eine alte Münze aus seinem Rachen zieht, geht er zum Hempstock-Haus, wo seine neue Freundin, Lettie Hempstock, mit Mrs. Hempstock und der alten Mrs. Hempstock lebt. Lettie nimmt den Jungen mit zu dem Wesen in der anderen Welt, um ihm Einhalt zu gebieten. Der Junge soll keinesfalls ihre Hand loslassen, in einem kurzen Moment jedoch bricht er sein Versprechen und das Wesen nistet sich heimlich in seinen Fuß ein und lässt sich zu den Menschen tragen.

Kein Buch von Neil Gaiman gleicht dem anderen – sieht man von mehrteiligen Reihen ab –, am ehesten ist „Der Ozean am Ende der Straße“ noch mit „Coraline“ zu vergleichen. Beide sind eine finstere Schauermär, die eigentlich kaum für ein junges Publikum geeignet sind. Zu finster und gruselig sind sie. Coraline ist aber dennoch eine Fantasygeschichte voller magischer Momente, aber fern der Wirklichkeit. Der neue Roman hingegen ist, trotz all der Phantastik, irgendwie realitätsnäher. Die Bedrohung lauert dieses Mal nicht in einer anderen Welt, sondern sie ist näher, als man denkt. Die Ängste des kleinen Jungen sind universell auf jeden einzelnen übertragbar und so spürbar, dass es einem beim Lesen die Kehle zuschnürt. Vielleicht bleibt er deshalb namenlos, um die Identifikation mit der eigenen Kindheit zu verstärken und zu erleichtern. Wer erinnert sich nicht an die ungefilterten und irrationalen Ängste vor gruseligen Nachbarn, der Finsternis unterm Bett oder vor fremden Erwachsenen? Und man steht da und ist zu klein, zu schwach und machtlos. Alle sind größer als man selbst, schneller und stärker.

Gaiman ist ein Meister darin, kein einziges Wort zu viel zu schreiben. Wo andere sich in ausgiebigen Ausschweifungen und Erklärungen verlieren, setzt er sie zielsicher und messerscharf ein. Jedes Wort sitzt und vermittelt genau das, was der Leser spüren soll. Vieles wird nur angedeutet und knistert vor Magie, obwohl es oft gar nicht gezeigt wird. Anderes wiederum wird mit einer sprachlichen Macht präsentiert, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Das Böse ist nicht einfach nur da und bedrohlich. Es ist nicht einfach nur ein Antagonist und eindimensional. Es ist überwältigend finster und angsteinflößend und gleichzeitig will es nur geliebt werden.

Der Roman wird als hochpoetisch bezeichnet, was gewisse Erwartungen an den Schreibstil und den Inhalt weckt, die manche Leser enttäuschen könnten. Die Poesie muss zwischen den Zeilen gelesen werden, denn im ersten Moment liest man eine magische und verstörende aber geradlinige Geschichte. Die Sprache ist perfekt und zieht in ihren Bann, aber ist schnörkellos und einfach (im Englischen ist sie aber durchaus verspielter). Wenn man sich aber darauf einlässt, wird man sehr schnell merken, dass es um viel mehr geht, als es im ersten Moment den Anschein hat, wie so ziemlich alles in der Welt des kleinen Jungen – und womöglich auch in unserer. Poesie.


Fazit

Neil Gaiman bleibt sich treu und schreibt, was er will, wie er es will. Heraus kommt ein wunderschöner und atmosphärischer Roman über die furchteinflößende Welt der Erwachsenen, in der ein Kind beinahe verloren geht. Nichts ist wie es scheint und alles, was wir als selbstverständlich erachten, ist in Wahrheit ein fragiles Konstrukt und nur einen falschen Schritt davon entfernt, einzustürzen.


Pro und Kontra

+ fantastische Sprache (besonders im Englischen)
+ die Gefühle des Jungen sind beeindruckend spürbar
+ Die Hempstock Familie
+ Ursula Monkton

- Die Zeichnungen im Buch sind belanglos

Beurteilung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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