Der Tag der Eule. Ein sizilianischer Kriminalroman (Leonardo Sciascia)

sciascia-eule

Berlin 2011, Wagenbach
Originaltitel: Il giorno della civetta (1961)
Übersetzt von Arianna Giaci
Taschenbuch, 140 Seiten
€ 9,90 [D] | € 10,20 [A] | CHF 14,90
ISBN 978-3-8031-2619-1

Genre: Kriminalroman


Inhalt

Am frühen Morgen wird in dem sizilianischen Ort S. der Bauunternehmer Salvatore Colasberna aus dem Hinterhalt mit einem kurzen Jagdgewehr erschossen, als er gerade auf den Bus nach Palermo aufspringt. Er war Vorsitzender einer kleineren Baugenossenschaft, die solide arbeitet und nur geringe Gewinne macht. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben, weder Busfahrer, noch Schaffner oder die rund fünfzig Passagiere. Nur der Ölkuchenverkäufer, der wenige Meter von Colasberna entfernt stand, erinnert sich an „so etwas wie einen Kohlensack“ an der Kirchenecke, von dem zwei Blitze ausgingen.

Capitano Bellodi, seit drei Monaten Kommandant der Carabiniere-Kompanie in C., soll den Mord aufklären. Binnen zwei Tagen erreichen ihn fünf anonyme Briefe. Die Eifersucht oder ein Versehen unterstellen, ignoriert er. Einer jedoch nennt als Grund Colasbernas Arbeit, die Konkurrenz und die Ausschreibungen von öffentlichen Bauaufträgen. Angeblich wurde Colasberna von der Mafia bedroht, weil er deren „Schutz“ ablehnte. Bellodi entlockt seinem Kontaktmann in S., dem Wucherer Dibella, gegen dessen Willen zwei Namen. Damit spricht Dibella sein eigenes Todesurteil. Etwa zur gleichen Zeit meldet eine besorgte Ehefrau das Verschwinden ihres Mannes, des Baumschneiders Paolo Nicolosi. Vor seinem Verschwinden hatte er ihr noch einen Namen genannt, den des Schwerverbrechers Diego Marchica. Beide geraten unter Verdacht.

Mit seiner hartnäckigen Suche nach der Wahrheit bringt Bellodi einige politisch hochstehende Personen in eine unangenehme Situation.


Rezension

Der in Racalmuto auf Sizilien geborene Leonardo Sciascia (1921-1989) war lange Jahre Volksschullehrer, arbeitete aber nebenbei als Schriftsteller und Journalist. Ab 1957 widmete er sich ganz dem Schreiben, verfasste Kriminalromane, Erzählungen, Essays und Gedichte. Zeitweilig war er als Parlamentsabgeordneter tätig. Sein bekanntestes Buch, Das Verschwinden des Ettore Majorana, handelt von einem berühmten Physiker, der noch vor Heisenberg die Kernspaltung entdeckte, seine Forschungsergebnisse jedoch geheim hielt. Lange vor Mario Puzo schrieb er über die sizilianische Mafia. Der Tag der Eule, sein erster und populärster Mafia-Roman, bildet den Auftakt zu einer Werkserie zu diesem Thema.

In Der Tag der Eule legte Sciascia die Strukturen der Mafia bloß, als die Öffentlichkeit ihre Existenz noch leugnete. Auch im Roman wird von verschiedenen Seiten immer wieder erklärt, es gäbe sie nicht, sie sei nur Behauptung, Gerede von Nicht-Sizilianern. Die Mafia kontrolliert die Wirtschaft und die Politik, bestimmt über Leben und Tod. Das Volk hat Angst und leugnet, das Schweigen kulminiert in dem absurden Höhepunkt, als ein Zeuge erstaunt und neugierig fragt, ob denn geschossen worden sei – dabei sind die Kugeln nur knapp an ihm vorbeigegangen.

Die Politiker sind korrupt, nur Richter, Staatsanwälte und Polizisten sind es nicht – jedenfalls nicht im Roman. Im Nachwort erklärt Sciascia, dass er den Text bereinigt hat, weil Justiz und Polizei keine Kritik vertragen. So sind denn wichtige Teile der Gesellschaft ausgeklammert aus der Kette, die aus vielen Gliedern besteht, vom Killer über den Auftraggeber, den Padrone, den Abgeordneten bis hinauf zum Minister. Es geht um Schutzgelderpressung, das Zuschustern von öffentlichen Bauaufträgen, Korruption, Bestechung, Steuerhinterziehung und nicht zuletzt um Mord, den Bau von überflüssigen Straßen, unmöglichen Trassen, von beim kleinsten Windstoß einstürzenden Häusern.

Meisterlich ist auch die Charakterisierung der Gestalten, die Einblicke in ihre Denk- und Gefühlswelt geben. Anders als Mario Puzo glorifiziert Sciascia die Mafia nicht, sondern beschreibt sie mit analytisch kalter Sachlichkeit. Bellodi ist ein Fremder, der Sizilien mit den Augen eines Menschen betrachtet, der ebenso gut ein Ausländer sein könnte, so wenig Gemeinsamkeiten und so viele Gegensätze existieren zwischen ihm und den Bewohnern der Insel. Er war Partisan, ist Republikaner, Antifaschist und Gegner von Polizeiwillkür und Machtmissbrauch; sein Verhalten ist ausgesprochen höflich. Ein bedeutendes Merkmal seiner Andersartigkeit sind seine Sprache und seine Unkenntnis des Sizilianischen, weshalb er mitunter einen Dolmetscher benötigt. Statt auf Gewalt setzt er auf Intelligenz. Mit Tricks und Lügen verschafft er sich Informationen, manipuliert er seine Gegner, spielt sie gegeneinander aus.

Sciascia zeigt das Systemische der Mafia und ihre Verwurzelung in der sizilianischen Gesellschaft, die so tief und fest ist, dass selbst die Faschisten sie trotz größter Anstrengungen nicht besiegen konnten. Bellodi erkennt seine Ohnmacht und vergleicht sich mit einem Kettenhund, der gerne zuschnappen würde, aber nicht kann. So gelingt es ihm zwar, hinter dem Gespinst aus Lügen und Verschweigen der Wahrheit auf die Spur zu kommen, aber den Kampf gegen die Mafia verliert er. Bellodis Ermittlungen enden beim Padrone. Da endet aber die Kette noch nicht, sie geht weiter über einen Abgeordneten und einen Minister bis nach Rom. Sie tragen keine Namen, sondern Bezeichnungen wie "der Alte" und "der Junge", "der Blonde" und "der Dunkle" oder "Seine Exzellenz".

Die Geschichte entfaltet sich in rasantem Tempo auf knappen hundertdreißig Seiten mit vielen Sprüngen und Ellipsen. Der Titel bezieht sich auf ein Zitat aus Shakespeares Heinrich VI.


Fazit

Leonardo Sciascias sizilianischer Kriminalroman behandelt ein Phänomen, das eine ganze Gesellschaft beherrscht und doch so unwahrscheinlich ist wie eine Eule am Tage.


Pro und Kontra

+ Klassiker von einem Meister des sizilianischen Mafiaromans
+ Meisterhaftes Gesellschaftsbild Siziliens
+ Spannender Kriminalroman
+ Anhang mit hilfreichen Anmerkungen
+ instruktiv, ohne dogmatisch zu sein
+ Signorina Elettra (aus den Brunetti-Romanen) liest Sciascia

Wertung:sterne5

Handlung 5/5
Charaktere 5/5
Lesespaß 5/5
Preis/Leistung 5/5


Rezension zu Der Zusammenhang

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