Das geheime Leben des Nachtfalters (Sabine M. Schmid)

Papierverzierer (Juni 2015)
Cover: Timo Kümmel
Klappenbroschur
272 Seiten, 13,95 EUR
ISBN: 9783944544489

Genre: Phantastik / philosophisches Märchen


Klappentext

Ein alter Mann haust in seinem Turm, empfängt Wanderer und bleibt für die Bewohner des naheliegenden Dorfes ein Rätsel, wodurch sie sich viele Geschichten über ihn erzählen. Das hätte auch so bleiben können, wenn Gerr nicht zur gleichen Zeit beinahe real wirkende Träume erleben würde, die ihr anscheinend einen Weg aufzeigen wollen. Und je mehr Gedanken sie sich macht, desto mehr stellt sie sich die Fragen, wohin sie will und was sie will. Denn die Wahrheit hinter den Träumen birgt neue Geheimnisse, die Gerr auf eine fantastische und metaphorische Reise schicken …


Rezension

Die junge Gerariana Tialis, die lieber Gerr genannt wird, ist trotz dem bescheidenem Wohlstand ihrer Familie unzufrieden mit ihrem Leben. Denn für ihre Zukunft sieht sie nur zwei Möglichkeiten, die ihr beide nicht gefallen – und die dritte, die sie sich erträumt, erscheint ihr unmöglich. Eines Nachts hat Gerr einen seltsamen Traum, in dem ein Junge sie auffordert, ihm zu folgen. Gerr betritt eine Welt, in der Gedanken und Gefühle zu Bildern werden und wo der Junge, der bald zu einem Mann wird, ihr helfen will, ihren eigenen Weg zu finden. Um diesen mysteriösen Mann, der stets in Rätseln spricht, aber ihr auch zuhört wie kein anderer, in der Wirklichkeit zu finden, schließt sich Gerr einer Gauklertruppe an. Die Anführerin, Mutter Mari, scheint den Mann aus Gerrs Träumen zu kennen – aber sie möchte nicht über ihn sprechen …

„Das geheime Leben des Nachtfalters“ ist eine phantastische Reise ins Reich der Träume und ins Unterbewusstsein, an einen Ort, wo alles nicht erklärbar, sondern schlicht sichtbar wird. Gerr taucht tief in die fremde und doch vertraute Welt ein, doch diese überwältigt sie zunächst und Gerr versteht nicht, was der geheimnisvolle Mann ihr sagen will. Bei ihren ersten Traumbegegnungen ist er noch sehr jung, hat honigblondes Haar und Augen, die ständig die Farbe zu wechseln scheinen. Mal sind sie moosgrün, dann leuchten sie wie Smaragde oder spiegelt das Blau des Himmels oder des Meeres. Gerr weiß fast nichts über ihn, außer, dass er meist freundlich, aber auch mal launisch und wütend ist. Und dass er ihr helfen will, zu verstehen, wohin sie eigentlich will. Später erkennt sie jedoch, dass sie nicht nur die Hilfe des Mannes sucht, sondern dass er genauso ihre Hilfe braucht.

Der Roman spielt in einem historischen Setting, wobei der Zeitrahmen nicht genannt wird. Aufgrund der Lebensumstände und den Lebenswegen, die Gerr als Frau wählen sollte, tippt man auf das 18. Jahrhundert. Die Handlung selbst, in der Gerr sich auf die Suche nach ihrer Zukunft und letztlich dem Mann begibt, dient nur als Rahmen für die Träume, die die Autorin in bedeutungsvollen Bildern schildert und mit philosophischen Fragen anreichert. Für eine Vierzehnjährige wirkt Gerr dabei sehr reif und als Leser tut man sich etwas schwer, zu akzeptieren, dass sie ihre Reise ohne nennenswerte Zwischenfälle meistert – selbst wenn sie Hilfe von Tieren und natürlich aus ihren Träumen erhält. Trotz gelungener Beschreibungen scheint es, als wäre die Handlung in der Wirklichkeit um die Träume herum konstruiert worden, um diese inhaltlich extrem dichten Passagen verdaulicher zu gestalten.

Denn die Themen, die Sabine M. Schmid in Gerrs Traumwelt anreißt, füllen eigentlich ganze Bücher. Zunächst geht es Gerr nur darum, herauszufinden, welchen Weg sie wählen soll – und was sie überhaupt tun kann, wenn sie nicht nach rechts, nicht nach links und schon gar nicht zurück gehen kann. An für sich schon eine Frage, die viele junge Menschen zur Verzweiflung treibt, doch damit ist erst der Anfang des philosophischen Dialogs getan. Der Mann erkennt nämlich Potential in Gerr und will ihr grundlegende Dinge über die Welt beibringen. Angefangen bei dem Wesen der Dinge, über das Wesen von Raum und Zeit (wobei die Quantenphysik gestreift wird, auch wenn der historische Rahmen dafür unpassend ist) bis hin zur Unterdrückung der Frauen und wie diese dazu erzogen werden, sich selbst klein zu halten. Garniert wird das Ganze mit einem Hauch von Magie und einer zutiefst lebensbejagenden Haltung gegenüber Natur und Mensch.

Das Problem bei all diesen durchaus wichtigen und interessanten Themen ist, dass die Autorin alles nur knapp anschneidet und den Mann zudem sehr rätselhaft sprechen lässt, sodass man sich oft genauso ratlos fühlt wie Gerr. Zwar ist man sich den ganzen Roman über sicher, dass am Ende der große Aha-Moment kommt, aber dieser kommt nicht. Die Geschichte endet mit offenen Fragen und nicht zu Ende gedachten Gedanken – wobei sie durchaus abgeschlossen ist und zumindest Gerr für sich etwas sehr Wichtiges erkannt und verstanden hat. Ein bisschen liest sich „Das geheime Leben des Nachtfalters“ auch wie eine phantastische Biografie der Autorin (beziehungsweise vieler Autoren) – als wäre sie selbst Gerr, die etwas sein will, wovon sie glaubt, dass sie es nicht kann. Und die letztlich erkennt, dass sie doch genau das ist, was sie sein möchte.


Fazit

„Das geheime Leben des Nachtfalters“ ist eine phantastische Reise in eine metaphorische Traumwelt, in der Protagonistin Gerr das Wesen aller Dinge zu begreifen versucht und in der sich zwei Menschen gegenseitig (zurück) auf den richtigen Weg schubsen. Der kurze Roman leidet etwas unter der Dichte der bedeutungsschweren Themen, die hier größtenteils nur grob angeschnitten werden. Zudem wirken die rätselhaften Ausführungen des Mannes oftmals zu belehrend. Trotzdem ist Sabine M. Schmid ein außergewöhnliches und charmantes Märchen gelungen, das für all jene interessant sein dürfte, die das große Ganze sehen und trotzdem auf Details achten.


Pro & Contra

+ märchenhafte Erzählweise
+ Gerr ist eine sehr sympathische junge Dame
+ lebensbejahend und philosophisch
+ metaphorische Traumwelt
+ berührend und nachdenklich stimmend
+ eindrückliche Beschreibungen von Traumwelt und Wirklichkeit
+ wunderschönes Cover

o aufgrund der Thematik nur bedingt für junge Leser geeignet

- zu viele bedeutungsschwere Themen auf zu kleinem Raum
- Ausdrucksweise des Mannes oftmals zu rätselhaft und belehrend
- Rahmenhandlung wirkt um die Träume herum konstruiert

Wertung: sterne3.5

Handlung: 3/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5